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Martin Böttcher, Berliner DJ und Musikjournalist.

© Frauke Fischer

Serie "Spreelectro": Neue Pop-Tipps aus Berlin

Der DJ und Musikjournalist Martin Böttcher gibt auf Tagesspiegel.de Pop-Tipps. Für unsere Serie "Spreelectro" hat er sich auf Berlin spezialisiert und empfiehlt Gutes aus der Hauptstadt. Zwar ohne Fußball, aber trotzdem mit viel Drama.

Monika Kruse – Traces (Terminal M)

Was ich an Monika Kruse, die seit Mitte der 90er Teil der Berliner Technogesellschaft ist, immer am interessantesten fand? Die Haare! Ihre langen blonden Locken und ihren harten Techno konnte ich in meinem Kopf nur schwer zusammenbringen. Irgendwie sah das für mich immer nach gestandener Businessfrau aus, nicht nach DJ, wenn sie an den Plattentellern stand und von den Massen gefeiert wurde.

Aber da sind wir natürlich wieder an dem Punkt, welche Rolle Frauen innerhalb der Musik- und speziell in der Clubszene zugedacht wird. Auf gut deutsch: Nicht die Musik, nicht die Party, nicht die Fans, sondern meine Vorurteile, von denen ich gar nicht wusste, dass sie überhaupt da sind, haben mein Bild von Monika Kruse bestimmt. Techno-Frauen, das muss man dazusagen, haben sich meiner Ansicht nach eine Art Panzer umgelegt, der sie härter erscheinen lässt, als sie eigentlich sind, und zwar noch ein bisschen mehr als die Techno-Männer: Keine Schwäche zeigen, Dummschwätzern, Zeit- und Energieräubern keine Hebelpunkte und Angriffsflächen für ihre Attacken bieten.

So weit die Theorie. Und jetzt zur Praxis: Vor zwei Jahren legte Monika Kruse, damals gerade 39 geworden, auf der Loveparade in Duisburg auf, während sich, unbemerkt von ihr und den Feiernden vor ihr, die Katastrophe abspielte, die 21 Menschen das Leben kostete. Von der Katastrophe, von den Toten und Verletzten und der Massenpanik bekam Monika Kruse erst nach ihrem Auftritt etwas mit.

Auch wenn Monika Kruse sich dazu nicht weiter äußert: Ich glaube, dass ihr neues Album „Traces“ eine Reaktion auf diesen Tag und ihre Erfahrungen dabei ist. Es ist nämlich ein Album, das nicht den Hörer, sondern die Macherin in den Mittelpunkt stellt. Langsame, fast schon spirituelle Stücke treffen auf sehr soulige House Music und schließlich auch den schnellen, gerade Techno, für den sie einst bekannt war. Experimentell ist das nicht, aber sehr wirkungsvoll. Monika Kruse sagt, „Traces“ spiegele ihren musikalischen Werdegang wider. Ich sage: „Traces“ spiegelt eine neue Innerlichkeit wider, die akzeptiert, dass das Leben viel zu kurz ist, um immer nur Party zu machen. Aber auch zu kurz, um komplett auf Party zu verzichten.

Ryan Davis – Particles of Bliss (Traum Schallplatten)

Martin Böttcher, Berliner DJ und Musikjournalist.
Martin Böttcher, Berliner DJ und Musikjournalist.

© Frauke Fischer

Uff, ganz schön kopflastig, meine Überlegungen in Sachen Monika Kruse. Da kommt ein Album wie „Particles Of Bliss“ gerade recht, das als Gesamtkunstwerk nur einen Zweck verfolgt: Die Entführung aus der Realität. Folgerichtig ist es beim Kölner Label „Traum“ erschienen und auch der Macher, der aus Magdeburg stammende, in Berlin lebende Produzent Ryan Davis hat mit Wirklichkeitsfluchten so seine Erfahrung. Er heißt nämlich gar nicht Ryan Davis, sondern Sebastian Waack und gibt sich und seinen seelenvollen, neotrancigen Techno-Klängen einen internationalen Anstrich, der nach England zu weisen scheint. Ich glaube, dass Waack alias Ryan Davis mit seiner Platte eine Grenze überschritten hat. Er ist nicht mehr nur ein Produzent, der seine Soundbausteine wie Lego zu Tracks zusammensetzt, sondern handelt wie ein richtiger Komponist, der Gefühle und Stimmungen in Klänge übersetzen kann. Kitschig ist das nicht, aber sehr warmherzig. Hat Musik die Kraft, die Produktion von körpereignen Drogen anzuregen? Natürlich hat sie das. Ryan Davis, ein Meister des Endorphin-Technos.

Tim & Puma Mimi – The Stone Collection of Tim & Puma Mimi (Mouthwaterin Records)

Martin Böttcher, Berliner DJ und Musikjournalist.
Martin Böttcher, Berliner DJ und Musikjournalist.

© Frauke Fischer

Er kommt aus Zürich, sie aus Tokio, zusammen sind sie Tim & Puma Mimi (und heißen natürlich auch ganz anders, nämlich Christian und Michiko). Was die beiden dann bei Spreelectro zu suchen haben, wo es doch um elektronische Clubmusik aus Berlin gehen soll? Ihr ziemlich gutes Gemisch aus schrägen Sounds und japanischen Sprachfetzen könnte genauso gut hier entstanden sein – und ist es ja zum Teil sogar! Dafür wohnten die beiden einige Wochen in der Kreuzberger Wohnung des Performancekünstlers und Musikers Pastor Leumund (das ist der, der mit seiner „Bergpartei“ schon 2006 das bedingungslose Grundeinkommen gefordert hat, den Palast der Republik als Künstlerort retten wollte und irgendwie in die Gemüseschlacht zwischen Friedrichshain und Kreuzberg verwickelt ist). Ein von Pastor Leumund irgendwo in Berlin auf der Straße gefundenes Keyboard kommt bei diesem Album jedenfalls ebenso zum Einsatz wie sein Klavier.

Nachdem Tim und Puma Mimi über Jahre hinweg mit Hilfe des Internets Audiofiles, Melodien und Gesang ausgetauscht haben, sind sie mittlerweile verheiratet. Das hat sie nicht davon abgehalten, tibetanische Glocken, japanische Eisenbahn- und Ampel-Erkennungsmelodien und sogar eine Gurke zu nutzen, um mosaikartig leicht schrägen Electropop zu fabrizieren. Liest sich seltsam, hört sich aber großartig an – eine echte Entdeckungsreise.

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