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Bundeskanzlerin Angela Merkel, (geborene Kasner) mit ihren Schulfreunden aus der 10. Klasse der Polytechnischen Oberschule Templin/Brandenburg (2. Reihe, Mitte, leicht verdeckt).

© dpa

Serie zur DDR-Jugend der Kanzlerin: Angela Merkel und ihre Vergangenheit: Woher wir kommen

Nur wenn Offenheit und Vertrauen herrschen, kann es gelingen, dass die DDR-Vergangenheit irgendwann genauso zur gemeinsamen Geschichte der Deutschen gehört wie diejenige des Westens.

Von Antje Sirleschtov

Nun werden die wahren Hintergründe der Vergangenheit von Angela Merkel debattiert. Heftige Reaktionen, von spontanen Gesten der Verbrüderung bis hin zu derber Kritik. Bemerkenswert ist, dass es meist Ostdeutsche sind, die sich zu Wort melden. Sehr emotional, man spürt, es liegt was in der Luft. Das ist die erste gute Nachricht dieser DDR-Vergangenheitswoche: Wir wollen nicht verstecken und verdrängen. Wir wollen uns erinnern, woher wir kommen. Auch 23 Jahre nach dem Untergang unserer ersten Heimat.

Die zweite gute Nachricht: Roland Jahn hat bisher geschwiegen. Der Mann war Bürgerrechtler in der DDR und ist seit zwei Jahren Chef der Stasiunterlagenbehörde. Man dürfte annehmen, in einer Kontroverse über die DDR-Vergangenheit sei Jahn der oberste Amtskompetenzträger. War sie oder war sie nicht? – Keiner muss so häufig diese Frage zur DDR-Vergangenheit eines Menschen beantworten wie Jahn. Aber in dieser Diskussion geht es eben nicht um Ja oder Nein, nicht um Opfer oder Täter. Und es ist gut, dass sich Jahn jetzt zurückhält. „Es gibt keine absolute Wahrheit“, hat er gleich zu seinem Amtsantritt zur DDR gesagt. Ein kluger Satz, der es vielleicht jetzt möglich macht, dass sich neben die DDR-Geschichtserzählung der Stasi nun eine Erzählung der Zwischentöne stellt. Oder besser: stellen kann. Schließlich braucht es für so eine Aufarbeitung nicht nur Menschen, die sich öffnen wollen, sondern auch Räume, die es ihnen möglich machen, ihre von persönlichen Brüchen und politischen Wirrungen und Verirrungen geprägten Lebensgeschichten zu erzählen. Ohne dass jemand gleich nach Karteikarten sucht.

Warum schweigen die Ostdeutschen so beharrlich? Lehrer sprechen nicht mit ihren Schülern, Kollegen kaum untereinander – noch nicht mal von Ossi zu Ossi – und schon gar nicht, wenn einer aus Tübingen oder Köln am Tisch sitzt. Waren wir alle Agitatoren? Irgendwie Agitprop-Funktionäre und gleichzeitig Kulturbeauftragte wie Merkel? Haben wir alle unsere kleinen oder größeren sozialistischen Leichen im Keller und fürchten, dass sie, einmal an die Oberfläche gezerrt, heftiger stinken könnten, als sie es in unserer ganz persönlichen Erinnerung tun? Wahrscheinlich liegt darin sogar etwas Richtiges. Wer hat sich standhaft der Pflicht zur Demonstration des Kollektivs am 1. Mai entzogen? Wer hat seinen Kindern erlaubt, den Staatsbürgerkundeunterricht zu schwänzen, weil dort ohnehin nur absurde Jubelgeschichten über den Sozialismus verbreitet wurden? Und wenn nicht, waren das dann schon Zeichen der Deformation und latenten Systemnähe, für die man sich heute schämen muss?

Was fehlt, seit zwei Jahrzehnten, sind Maßstäbe. IM oder Bürgerrechtler, diese Leitplanken der Vergangenheitsbewältigung waren zwar zunächst richtig und notwendig (und sind es heute noch). Aber eben nicht ausreichend, um einer umfassenderen Antwort auf die Diktaturfrage wirklich näherzukommen. Wie konnte es einer Handvoll alter Männer gelingen, 16 Millionen Menschen 40 Jahre lang hinter einem Drahtzaun einzusperren? Und welche Rolle spielte das Verhalten des Einzelnen? Um hinter dieses Geheimnis zu kommen, braucht es eine Atmosphäre von Verständnis und auch Verzeihen. Vertrauen ist das Stichwort. Und Offenheit, was wahrscheinlich der einzige Maßstab ist, der angelegt werden darf.

Um nicht missverstanden zu werden: Bei einer solch offenen Aufarbeitung soll es keineswegs um Geschichtsklitterung gehen, die jedwede Verantwortung vom Tisch wischt. Wer Parteifunktionär war, soll dazu stehen, dass er ein System gestützt hat, das seine Bürger ihrer bürgerlichen Freiheiten beraubt hat. Wer diese Verantwortung hatte, der soll aber auch über sie sprechen dürfen, ohne direkt fürchten zu müssen, dass er nun, Jahrzehnte später, als „Unverbesserlicher“, als „Altkommunist“ oder als „mieser Mitläufer“ gebrandmarkt wird. Denn wir wollen doch wissen, wie jemand zum Parteisekretär wurde. Seine Beweggründe sind von Interesse, auch seine Zweifel oder sein überzeugtes Engagement für den Aufbau einer gerechteren sozialistischen Gesellschaft.

Nur so werden wir das Wesen der DDR-Diktatur langsam durchdringen können. Für all jene, die aus Altersgründen oder aus Herkunftsgründen über die „wahre“ DDR nicht mitreden können, ein wichtiger Baustein im Zusammenleben mit Eltern, Verwandten, Freunden, Nachbarn oder Kollegen. Und denen, die dabei waren, kann es helfen, sich in der neuen Heimat zu Hause zu fühlen. Nur wenn die DDR-Vergangenheit genauso zur gemeinsamen Geschichte gehört wie diejenige des Westens, ist es ein Zuhause für alle.

Bisher erschien in unserer Serie zur DDR-Vergangenheit: „Auch ich war Agitator“ von David Ensikat (16.5.)

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