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Alles kommt auf den Tisch. Sandro Botticelli malte diese wilde Szene aus dem „Decamerone“ im Jahr 1487.

© imago/United Archives Internatio

Seuchen in der Literatur: Krankheit als Zeitraffer

Boccaccio, Thomas Mann, Philip Roth: Seuchen sind immer auch ein mächtiges Thema der Literatur.

Das Virus, es ist jetzt unweigerlich in Europa angekommen, die Seuche, sie ist da, die Covid-19-Seuche. In schwachen Momenten, fern der Ratio, da man den Eindruck hat, den Corona-Viren gar nicht mehr entgehen zu können in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Flugzeugen, auf Messen oder in Fußballstadien, in den Medien sowieso, da kommt unweigerlich der Gedanke, es so zu machen, wie seinerzeit die jungen Menschen in Giovanni Boccaccios „Decamerone“.

Raus aus der Großstadt, aus Florenz, wo von 1348 an die Pest wütete, so wie jetzt in Norditalien Covid 19 wütet (wütet?) – und vermeintlich geschützt aufs Land, auf ein schönes Anwesen.

Sieben Frauen und drei Männer sind es, die ihrer Gesundheit wegen, aber auch zum Vergnügen hier zusammenkommen und eine schöne Zeit verbringen, insbesondere damit, sich Geschichten zu erzählen, witzige, sonnenbeschienene, sinnliche.

Decamerone“, das Zehn-Tage-Werk mit seinen hundert Novellen, gilt als die Wiege der europäischen Literatur, Boccaccio als einer der Begründer der europäischen Erzähltradition. Die Pest spielt dabei eine tragende Rolle, nicht nur weil sie den Hintergrund für die Geschichten der zehn jungen Leute bildet, sondern sie auch der Motor ist. Das Leid sollte abgemildert werden, die Erzählungen Hoffnung spenden, das Erzählen überhaupt.

Thomas Mann begegnet der Cholera in Venedig

Seitdem spielen die Seuchen, die die Menschen heimsuchen – und das auch jetzt, da wir in dem trügerischen Glauben leben, sie medizinisch unter Kontrolle zu haben – stets eine Rolle in der Literatur. In der Genre-Literatur sowieso, meist als Dystopien, als Horrorszenarios, genau wie in der hohen, der schönen Literatur.

Hier werden Seuchen mal allegorisch verwandt, basieren aber auch auf Erfahrungen der Autoren. Wie bei Thomas Mann, der 1905 in Danzig einen Urlaub abbrach, um der Cholera zu entgehen, die Anfang des 20. Jahrhunderts grassierte.

In Venedig begegnet er ihr abermals, was schließlich literarische Folgen hat: Mann schreibt seine Novelle „Tod in Venedig“ auch unter dem Eindruck der Cholera-Epidemie. Die bakterielle Infektion ist eine der vielen Todesmotive der Erzählung.

Eine erste Ahnung von ihr bekommt Manns Held Achenbach, als er „einige die Außenwelt betreffende unheimliche Wahrnehmungen“ macht: „Erstens schien es ihm, als ob bei steigender Jahreszeit die Frequenz seines Gasthofes eher ab- als zunähme, und insbesondere, als ob die deutsche Sprache um ihn her versiege und verstummte, so dass bei Tisch und am Strand endlich nur noch fremde Leute sein Ohr trafen.“

Und dann sagt ein Friseur zu ihm, durchaus anerkennend: „Sie bleiben, mein Herr! Sie haben keine Furcht vor dem Übel.“ Es folgen Geruchssensationen, Gerüchte mit „schwankenden Ziffern“, vermutlich Todeszahlen. Doch anders als die deutschen und österreichischen Urlauber bleibt der todessehnsüchtige Achenbach in Venedig – und stirbt an der Cholera.

Einigen verhilft sie zum Wachstum - die Pest

Flüchten oder bleiben? Wenn von Staats wegen eine Quarantäne angeordnet wird, wenn Städte oder Dörfer abgeriegelt werden (Wuhan, Gangelt etc) hat niemand eine Wahl – so wie das in dem wohl bekanntesten Seuchenroman aller Zeiten der Fall ist, in Albert Camus’ 1947 veröffentlichten Roman „Die Pest“.

Hier wird die algerische Hafenstadt Oran von der Pest eingeholt – und abgeriegelt. Der Restwelt hilft das, die Eingeschlossenen jedoch sterben nach und nach. Wie seinerzeit Boccacchio („entweder durch Einwirkung der Himmelskörper entstanden oder im gerechten Zorn über unseren sündlichen Wandel von Gott als Strafe über die Menschen verhängt“) lässt Camus seine Protagonisten diskutieren, woher die Pest kommt.

Ist sie eine gottgewollte Strafe, eine „Kollektivstrafe“? Der Arzt Rieux hält davon nichts: „Was für alle Übel dieser Welt gilt, gilt auch für die Pest. Sie kann dazu dienen, einigen wenigen zum Wachstum zu helfen. Wenn man indessen das Elend und den Schmerz sieht, den sie mit sich bringt, dann muss man verrückt, blind oder feige sein, um sich mit der Pest abfinden zu können.“

Camus’ Roman wurde bevorzugt als politische Metapher auf das von den Nazis besetzte Frankreich des Zweiten Weltkriegs gelesen. Hier die Pest, also die Nationalsozialisten, dort die Eingeschlossenen, die Franzosen; dazu die Résistance, die der tapfer sich gegen die Seuche stemmende Dr. Rieux verkörpert.

Seuchen werden rassistisch instrumentalisiert

Die Schuldigen werden aber in der Literatur (wie im richtigen Leben) vielfach oft auf der Erde gesucht, bei den Mitmenschen. Seuchen werden antisemitisch und rassistisch instrumentalisiert. Davon erzählt die 2018 verstorbene Mirjam Pressler in ihrem letztem, posthum erschienenen Roman „Dunkles Gold“.

Ein Strang davon spielt zur Zeit der großen Pest-Epidemie Mitte des 14. Jahrhunderts. Das jüdische Mädchen Rachel flüchtet mit ihrem Vater und ihrem Bruder von Erfurt, wo sie zuhause ist, nach Polen – und dass weniger aus Angst vor der Seuche selbst als vor Pestprogromen. Unterwegs werden sie immer wieder angefeindet: „Vergiftet haben sie die Brunnen,/Wollt Christenleben nicht vergunnen.“

Auch in Philip Roth’ Roman „Nemesis“, 2010 erschienen, einer der letzten und besten des großen amerikanischen Schriftstellers, gibt es antisemitische Aufwallungen, und zwar als in Newark, Roth’ Geburtsort, 1945 eine Polio-Epidemie ausbricht.

Mittel der Wahl, um ihr zu entgehen, ist abermals die Flucht: „Als beste Vorbeugungsmaßnahme gegen Polio galt, die Kinder aus der Hitze der Stadt in ein Sommercamp in den Bergen oder aufs Land zu schicken“. Newark wird gekennzeichnet von einer Mischung aus Sommerhitze, Angst, Panik und Beschuldigungen: „Wegen all der Juden – darum geht die Polio von Weequahic aus, und darum muss man die Juden isolieren“, sagt hier eine Figur entsetzt.

Erbarmen, eine Erlösung gar gibt es für Roth’ Hauptfiguren nicht: einen Lehrer, der sich schuldig fühlt, den Virus mit in die Berge gebracht zu haben, und einen Schüler, der daran erkrankt. 

Gott hilft nie

Gott straft, womöglich, hilft aber nie– selbst wenn man noch so überzeugt von seiner Existenz ist. So wie in Stewart O’Nans Roman „Das Glück der Anderen“ der Prediger, Sheriff und Leichenbestatter Jakob Hansen.

„Dein Glaube wird dich stets retten“, glaubt er, der im Wisconsin des 19. Jahrhunderts versucht, sich gegen einen Pestausbruch zu stemmen. Doch auch hier versetzt der Glaube nur Tote. Wer hier wen straft, ob der Glaube hilft, wer Schuld hat bleibt ungeklärt.

All dem wollte auch der amerikanische Schriftsteller Harold Brodkey, der 1996 an Aids starb, nicht mehr auf den Grund gehen. Nach der Diagnose verabschiedete er sich im „New Yorker“ in Form eines Briefes von seinen Lesern und dem Literaturbetrieb.

Er schrieb über die Krankheit, sein Leben, den Tod, und er beendete den Brief mit den Worten: „Mehr habe ich im Moment nicht zu sagen. Betet für mich."

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