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Kultur: Sex aus dem Wörterbuch

LESUNG

Wo schlägt die Seele der technischen Gesellschaft, und gibt es sie noch? So lautet die provokante Frage des französischen Skandalschriftstellers Michel Houellebecq. Plötzlich war er wieder da, der welthaltige Roman, der sich nicht in die Metareflexion über die Sprache verflüchtigte, sondern die zentralen Themen der Gesellschaft auf den Punkt brachte: Informatik, Gentechnik, Neoliberalismus, Sex. Die französische Literaturkritik reagierte auf das Phänomen Houellebecq unvorbereitet bis unbeholfen und meist feindlich: abgeschriebenes naturwissenschaftliches Wissen und pornografische Drecksudelei, warf man ihm vor. Rita Schober , die Grande Dame der Romanistik, trat im brechend gefüllten Literaturforum des Brecht- Hauses an, diese Vorwürfe zu entkräften. Ihr neues Buch „Auf dem Prüfstand: Zola – Klemperer – Houellebecq“ stellt den Erfolgsautor in eine historische Kontinutität zum Experimentalroman eines Zola. Vieles in Houellebecqs Werk sei bei dem Autor des „Germinal“, 120 Jahre vorher, schon vorgezeichnet: Die Getriebenheit der kapitalistischen Seele, die drastischen Sexszenen, die intensiven Recherchen des Autors in fremden und anrüchigen Milieus. Sie habe oft im Wörterbuch nachschlagen müssen, weil sie das derbe Sexualvokabular Houellebecqs nicht verstand, bekannte Schober freimütig. Doch ihre bestrickende, fast mädchenhafte Eleganz hielt die 85-Jährige nicht davon ab, in Houellebecqs Œuvre die Differenzen zum bloßen literarischen Voyeurismus und zur Flucht vor den großen Fragen der menschlichen Existenz zu entdecken. Ein tiefes moralisches Bewusstsein sei es, das den Bodensatz des Skandaleurs Houellebecq bildet.

Thomas Thiel

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