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Me Too. Daphne wird von Apoll verfolgt und verwandelt sich in einen Lorbeerbaum: Gemälde von Theodore Chasseriau (1846).

© mauritius images(P. Willi

Sexismus-Debatte: Sei doch einfach du selbst!

Das Ich, die Rolle, die Bilder und der Sexismus: Szenen aus dem Leben einer Schauspielerin, auch in Anbetracht des Skandals um Harvey Weinstein.

Ein kurzes Schauspiel.

Eine junge Frau betritt nackt die Bühne. Sie zittert.

SCHAUSPIELERIN: Wie soll ich diese Kälte bloß überleben?

REGIE: Abbruch! Du sollst die Kälte nicht spielen, sondern einfach sein!

Pause. Die Schauspielerin geht von der Bühne ab und betritt sie noch einmal. Diesmal zittert sie nicht.

REGIE: Stop! Na ja, also... Nicht vergessen, dir ist schon auch kalt. Es sind minus 40 Grad.

Pause.

SCHAUSPIELERIN: Warum genau bin ich in der Szene dann nochmal nackt?

REGIE: Damit man versteht, wie kalt dir eigentlich ist.

SCHAUSPIELERIN: Das sage ich doch gleich am Anfang.

REGIE: Ja, aber jetzt überleg mal, wie kalt dir ist, wenn du dabei auch noch nackt bist.

SCHAUSPIELERIN: Ich glaube, dann wäre ich tot.

REGIE: Jetzt verkrampf nicht so.

SCHAUSPIELERIN: Wie, so?

REGIE: Schäm dich doch nicht. (irritiert) Sei einfach ganz natürlich.

SCHAUSPIELERIN: Ich verstehe nicht.

REGIE: Du sollst auch nichts verstehen, sondern spielen.

SCHAUSPIELERIN: Vorhin hieß es noch, ich soll nicht spielen.

REGIE: Ja genau, sei doch bitte einfach du selbst.

Der Chorus betritt die Bühne. Die Stimmen werden immer lauter.

CHORUS: (Wiederholung in Schleife) „Schäm dich, aber sei nackt dabei, dann weißt du, wie frei es sich doch tanzen lässt um den lauen Lügenbrei.“

SCHAUSPIELERIN: Ich glaub, ich kann das nicht.

REGIE: Ab! Ab von der Bühne, ab!

Meine Spielwut rauft sich mit meinem Verstand um die verlorene Würde. Artikel Eins des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dann kann sie ja kaum verloren gegangen sein. Nein, sie hat sich eine Weile versteckt und solange hat sich die Scham eingezeckt. „Schäm dich doch, dass du so laut, so schön, so groß! Schäm dich doch, dass du so anders, so offen, so frei. Schäm dich doch nicht, aber sei nackt dabei, dann weißt du schon, wie frei es sich tanzen lässt um den heißen Lügenbrei.“

Das Selbst, das dysfunktionale, sexistisch bedingte Bild des Selbst und die Projektionsflächen, die das Selbst zulässt, sind für mich die Kernthemen dieser aktuellen, uralten Sexismusdebatte. Warum setze ich mich für eine paritätische Besetzung im Theater ein? Warum mein neu entdeckter Feminismus? Mir geht es darum, alle weiblichen Rollen zu hinterfragen, die in unserer Gesellschaft an soziale, religiöse und familiäre Erwartungen geknüpft sind.

Die Bühne war schon immer der Ort, um gesellschaftliche Dysfunktionen zu verhandeln. Deshalb kann ich es kaum glauben, dass genau an diesem Ort eine solche Diskrepanz beim Thema Gleichberechtigung herrscht. Wann und mit welchen Mitteln füttern wir mit unserer Kreativität das System?

Wo ist das Selbst geblieben?

„Sei doch einfach du selbst!“ Was sollen diese fünf Wörter bedeuten? Wo ist das Selbst geblieben, wenn sich auf der Bühne genauso wie außerhalb des Theaters so viele Rollen spielen lassen, die unserer Natur nicht entsprechen? Wo haben wir es liegen gelassen, um den Projektionen des Gegenübers gerecht zu werden? Warum verspüren wir das große Bedürfnis, uns selbst zu betrügen, um dem anderen zu gefallen? Wann überlassen wir dem narzisstischen Wahn das Steuer? Was macht dieser Selbstbetrug mit unserem Selbstbild? Welche Bilder sind meine eigenen, welche habe ich einfach so angenommen?

Fragen, die sich mir als Schauspielerin ständig stellen. Nehme ich gerade tatsächlich „aus Versehen“ an einer sexistischen Diskussion teil und nicke lächelnd, bis mir der nächste Wein eingeschenkt wird? Oder warte ich einfach taub vor Hoffnung darauf, dass mir endlich jemand sagt, wie gut ich bin, dass es jetzt so weit ist mit der großen Rolle, dass es sich doch gelohnt hat, nicht zu meinem Selbst zu stehen?

Das klein gewordene Selbst wartet auf Anerkennung. Wieso wurde mir als Frau beigebracht, dass ich „männliche“ Anerkennung brauche? Was wäre, wenn ich mir meiner Stärke von vornherein bewusst wäre? Wenn jede und jeder von uns sich ihrer Stärke bewusst wäre und sie im kreativen Prozess einsetzen würde?

Während die Fragen im Backstage tanzen, ordne ich das dysfunktionale Selbstbild meines Schauspielerinnen-Daseins in die Drei-Akt-Struktur:

I. Mein Selbst außerhalb der Bühne sollte nett, schön und laut im Schweigen sein.

II. Mein Selbst auf der Bühne sollte unermüdlich, unterwürfig, anregend und immerzu inspirierend sein.

III. Das Selbst meiner Rolle sollte alles sein, was der Autor, der Regisseur und die Zeit, in der wir leben, in ihr sieht. Und ich soll es am besten auch noch außerhalb der Bühne verkörpern, wenn ich nett, schön und laut im Schweigen bin.

Gibt es zwischen Genitalien und Verstand noch ein Herz?

All diese Erwartungen töten das Feuer, das meine kreative Kraft antreibt. Die Stricke sind ganz schön eng gezogen, wenn es jetzt noch darum geht, „ganz ich selbst“ zu sein. Friss oder stirb. Nachdem ich eine Weile dieses erschöpfende Spiel mitgespielt und eines klaren Wintermorgens gemerkt habe, dass die Magie, die mich ans Theater bindet, im Egosumpf versunken ist, habe ich mir eine Spielpause gegönnt.

Warum das ewig durchgekaute Sex-Thema immer noch hungrig verschlungen wird, ist ein großes Rätsel. Wenn es zwischen Genitalien und Verstand noch eine Brust gibt, in der ein Herz schlägt, warum argumentieren wir dann immer von unten nach oben, wenn im Zentrum das Leben pocht? Ich will zurück zur Magie! Zum Stoff, aus dem die Träume sind. Zum Geschichtenerzählen, zur künstlerischen Freiheit. Das Theater ist der Ort dafür.

Ab jetzt werden die Spielregeln neu gecastet

„Sei doch einfach du selbst!“ Das Statement bekommt neue kreative Kraft, wenn ich es als Schauspielerin ab jetzt wörtlich verstehe. Mein Wort wird wertvoll, meine Vision wird klar, meine Entfaltung zählt, mein Spiel wird frei – völlig unabhängig davon, ob es den Bildern entspricht, die von mir erwartet werden. Für uns Schauspielerinnen und Frauen in einer noch von Männern regierten Welt gilt es, wachsam mit dem Selbstbild umzugehen, uns schöpferisch auszudrücken, uns bewusst mit dem bestehenden System auseinanderzusetzen, uns gegenseitig zu unterstützen.

Ich habe große Hoffnung, dass wir die künstlich geschaffene Konkurrenz ablegen und einen neuen, gemeinschaftlichen Weg erforschen. „Das Selbst ist nur dann ganz es selbst, wo es spielt“ – frei nach Schiller. Ab jetzt werden die Spielregeln neu gecastet. Mögen unsere Selbsts sich im Theater als Menschen begegnen, möge unser Spiel der Gesellschaft ein Vorbild sein!

Onimar Âme lebt als deutsch-französische Drehbuchautorin und Schauspielerin in London und in Berlin. Sie ist Mitinitiatorin von Pro Quote Bühne. Im Juli gründete sie „Blauhauch“, eine internationale und multidisziplinäre dreizehnköpfige Frauentheatergruppe. An diesem Samstag um 16 Uhr startet eine #MeTooBerlin-Demonstration gegen sexualisierte Gewalt am Berliner Hermannplatz.

Onimar Âme

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