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Strohmann im Glück. Rafe Spall als Shakespeare – ab Donnerstag im Kino.

© Sony

Shakespeare-Film: Fakespeare lebt

Elisabethanischer Agententhriller: Roland Emmerichs „Anonymus“ spielt mit der Identität des berühmten Barden.

„Anonymus“ dauert 131 Minuten und sein Manko ist: Roland Emmerichs Film müsste wohl eine halbe Stunde länger sein. Schon in der Eingangssequenz stürzt der Kamerablick aus der Vogelperspektive wolkenkratzertief in die Straßenschluchten von Manhattan, in denen ein älterer Mann aus dem Taxi in ein Broadway-Theater hastet. Ein offenbar verspäteter Schauspieler, der noch atemlos und im Straßenanzug die Bühne betritt, um vor vollbesetztem Haus eine ziemlich alte Geschichte zu erzählen.

Die Geschichte von Shakespeare, dem größten dramatischen Genie, und einem jahrhundertelangen Betrug. Es geht in ein paar jagenden Sätzen sofort um die Frage aller Fragen: War der 1564 in Stratford-upon-Avon geborene und dortselbst 1616 verstorbene Schauspieler und Kaufmann namens William Shakspere (so geschrieben) auch der Autor jener erst sieben Jahre nach seinem Tod unter dem Namen William Shakespeare in einer Londoner Gesamtausgabe gedruckten Werke? Soll der Sohn eines analphabetischen Handschuhmachers, soll ein Landei und Dorfschüler, der kaum seinen Namen als Unterschrift krakeln konnte, tatsächlich 36 Dramen, zwei Epen und 154 Sonette mit einer bis heute einzigartigen Bilder- und Bildungsfülle, einer Sprach- und Fantasiekraft sondergleichen verfasst haben?

Derek Jacobi, früher ein Protagonist der Royal Shakespeare Company, gibt diesem Info-Intro im Scheinwerferlicht des Broadways ein britisches Rezitatorenpathos, das selbst in der deutschen Synchronfassung noch durchklingt. Doch ist das nur ein Trick und schnell vorbei. Jacobis Figur heißt „Prolog“, wie einst Figuren auch im barocken und elisabethanischen Drama. Schnell blendet der Film vier Jahrhunderte zurück. Von New York City nach London Town.

Ein Mann, schon wieder ein Atemloser, wird durch düstere Gassen verfolgt und versucht sich in ein Theater zu retten. Diesmal nicht auf die Bühne, sondern in den Unterboden. Das Dramatisch-Untergründige, es lässt den Film nun nicht mehr los. „Anonymus“ erzählt die Story einer fabulösen Konspiration, und der wahre Dichter der Shakespeare-Stücke ist zugleich ein Dunkel- und Nobelmann. Er heißt Edward de Vere, ist der 17. Earl of Oxford und nicht nur für Roland Emmerich, sondern viele Forscher weltweit, die den Autor Shakspere/Shakespeare bezweifeln, der erste Anwärter auf den Dichterkönigstitel.

Einer von de Veres Gehilfen und Mitwissern war wohl der nicht ganz so begabte Dramatiker Ben Jonson, der Mann, der sich hier in der Londoner Dunkelheit im Theater, dem berühmten „Globe“, versteckt. Kaum wird er entdeckt und von Häschern des eben als Nachfolger der gerade verblichenen Elisabeth I. eingesetzten Königs James I. mit der Folter bedroht, beginnt auch er zu erzählen. Und nun springt die Filmgeschichte nochmals fünf und dann gar vierzig Jahre zurück.

Das alles ist sehr raffiniert und binnenlogisch gestrickt. Es ist aber unglaublich personen- und intrigenreich verschachtelt – und wird mit nie vermindertem Tempo erzählt. So gehetzt wie der (doppelte) Beginn wirkt der ganze Film, der kurioserweise mehr dramaturgische Tiefe als epische Breite und Atem besitzt. Roland Emmerichs Ausstatter Sebastian Krawinkel und ein gleichfalls deutsches Team für die Animationsszenen zaubern ein grandioses nachmittelalterliches London hervor: nasskalt, voll glänzender Schwärzen (Kohle, Pech und Schwefel), in den Palästen voll düsterem, kerzenflackerndem Prunk, draußen oft eine Stadtlandschaft wie von alten Holländern gemalt, mit dem Schneereif auch, der damals die Ländereien dies- und jenseits des Kanals in eine Art Zwischeneiszeit tauchte. Man möchte da mit den Augen auch selber länger eintauchen – und zugleich die Gedanken ordnen. Doch Emmerich und Anna J. Foersters Kamera hetzen und jagen immer gleich weiter: so viele Schnitte, Zeitsprünge, Wechsel.

Das soll wohl eine Atmosphäre der explosiven genialischen Zeitenwende und dämonischen Intrigendichte schaffen. Es steigert indes kaum das Verständnis, zumal für ein Publikum, das mit den philologischen und kulturgeschichtlichen Finessen und der seit gut 100 Jahren schon von Mark Twain, Sigmund Freud, Orson Welles und anderen Geistern begonnenen Urheberdebatte wenig vertraut ist.

Kurz gesagt: Als Mr. Shakspere in Stratford starb, nahm zunächst niemand vom Ableben des angeblich größten Dichters des Elisabethanischen Zeitalters Notiz. In seinem pedantisch kleinkrämerisch, aber nur mit Krakelsignatur bezeichneten Nachlass („das zweitbeste Bett“ für die Witwe) fand sich kein einziges Buch, kein Manuskript, kein Hinweis auf Rechte an Stücken und Tantiemen. Es war, als wäre Mozart ohne ein Notenblatt oder Tizian ohne Pinsel und Leinwand dahingegangen. Weil es aber den Schauspieler Shakspere (in diversen Schreibweisen) und spätestens in der posthumen Folio-Ausgabe von 1623 auch den Dichternamen Shakespeare gab, ist die Theorie: W. Sh. diente als Strohmann für einen Autor, der seinen Namen nicht nennen konnte. So war es Adligen bei Hofe nicht gestattet, dem bürgerlichen Beruf eines Schriftstellers und gar eines für vergnüglich, aber halbseiden erachteten Theatermannes nachzugehen. Deshalb ist einer der Kandidaten der poetisch begabte und Königin Elisabeth I. zugetane Edward de Vere: ein Mann, der den Bildungshintergrund für die mit Bibel, Mythen, Philosophie, Poesie und Historienwissen aus ganz Europa und mindestens fünf Sprachen spielenden Dramen gehabt und auch entsprechende Reisen nach Frankreich und Italien unternommen hatte.

Natürlich will die Mehrheit der Stratford-Getreuen, mitsamt der millionenschweren Tourismusindustrie um den „Süßen Schwan von Avon“, von solchen Zweifeln nichts wissen. Deshalb ist Emmerichs Versuch eines Denkmalsturzes im Mainstreammedium Hollywoodmovie allemal mutig. Die Kritiken in London und New York haben es ihn, mit zum Teil grotesken Unterstellungen und entsprechender Wirkung auf die Ticketverkäufe, schon büßen lassen. Aber Emmerich ist auch nicht zart besaitet. Sein Edward de Vere, gespielt von Rhys Ifans, hat zwar ständig tintenbeklekste Finger, führt aber glaubwürdiger Mantel, Degen und amouröse Abenteuer im Schilde als das Dichten und Denken. Auch Sebastian Armesto als Ben Jonson hätten wir uns als Verfasser des „Volpone“ irgendwie literarisch angehauchter vorgestellt. Vorzüglich dagegen Vanessa Redgrave und ihre Tochter Joely Richardson als alte und junge Queen Elizabeth. Nur die Inzest-Liebesszenen mit de Vere, der hier ein Bastardsohn der „jungfräulichen“ Königin sein soll, sind eher brunstgewerblich: Poetische und spermische Ergüsse gehen da Hand in Mund.

Emmerich und sein Drehbuchautor John Orloff haben allerdings nicht nur in der Hofgesellschaft ihre trickreichen Fährten gelegt für einen oft rasanten und unterhaltsamen elisabethanischen Agententhriller. Sogar der scheinbar tumbe Schauspieler-Strohmann namens Shakespeare (Rafe Spall) entpuppt sich, nachdem ihn ein ahnungsloses Publikum wie einen heutigen Popstar feiert, als überraschend hinterfotziger Erpresser und Intrigant. Ganz nebenbei lässt er, das ist Emmerichs origineller Einfall, auch einen Konkurrenten beseitigen, den Dramatiker Christopher Marlowe (sehr gut: Trystan Gravelle). Marlowe freilich wäre selber ein Kandidat für den wahren Shakespeare, nachdem neuere Forschungen mit immer stärkeren Argumenten bezweifeln, dass er bereits 1593 ermordet wurde. Aber das ist eine andere Geschichte. Vielleicht in einem anderen Film.

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