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Die Schriftstellerin Sybille Lewitscharoff, 60.

© dpa

Sibylle Lewitscharoff: Kritik an den Kirchen - und an sich selbst

Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff hatte für Empörung gesorgt, als sie Retortenkinder als "Halbwesen" bezeichnete. Jetzt trat sie bei der Berliner Veranstaltungsreihe "Dekalog heute" auf - und sprach über das dritte und vierte Gebot.

Mit der Projektreihe “Dekalog heute”, die 2013 gestartet ist, wollen die evangelische Kunststiftung St. Matthäus und die katholische Guardini-Stiftung auf das Reformationsjubiläum 2017 vorausweisen. Sie laden Künstler ein, sich mit den Zehn Geboten auseinanderzusetzen. Am Dienstagabend war Sybille Lewitscharoff eingeladen, um über das dritte und vierte Gebot zu sprechen.

Es hat Drohungen gegeben, Aufforderungen, Sibylle Lewitscharoff solle sich erschießen. Ihre Bücher müssten verbrannt werden. “So etwas fordern allen Ernstes Kirchenmitglieder, Menschen die sich als gute Christen verstehen”, sagt Petra Bahr, die Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie sei fassungslos angesichts der Hass-Mails, die sie bekommen habe, nachdem sie zugesagt hatte, ein öffentliches Gespräch mit Sibylle Lewitscharoff zu führen. Am Dienstagabend fand das Gespräch in der Neuen Nationalgalerie in Berlin statt. 

Lewitscharoff hatte Anfang März in Dresden in der Retorte gezeugte Kinder als “Halbwesen” bezeichnet und die Reproduktionsmedizin mit Menschenzüchtungs-Praktiken der Nationalsozialisten verglichen. Auch Petra Bahr hatte die Schriftstellerin dafür heftig kritisiert. Doch es liege ihr fern, deshalb gleich die ganze Person und ihr Werk herabzusetzen, sagt Bahr. Vielmehr mache es ihr Angst, wie unerbittlich, eifernd und hetzend in der Öffentlichkeit mit Personen umgegangen werde, die Fehler gemacht haben.

So geht es auch Landesbischof Markus Dröge. Sibylle Lewitscharoff habe ihre zu Recht scharf kritisierten Äußerungen zurückgenommen, sagte Dröge am Dienstagabend. Seither müsse man unterscheiden zwischen den verunglückten Formulierungen und dem berechtigen Anliegen der Autorin. Sie habe auf das “Unbehagen” hinweisen wollen angesichts eines unbegrenzten Machbarkeitswillens in der Reproduktionsmedizin. Und das sei durchaus diskussionswürdig. Viele der gut 300 Zuhörer applaudierten daraufhin.

Die evangelische Kulturstiftung St. Matthäus und die katholische Guardini-Stiftung hatten Sibylle Lewitscharoff schon vor Monaten eingeladen. Auch bei den Stiftungen waren Drohungen eingegangen: Falls man Lewitscharoff nicht auslade, werde man aus der Kirche austreten. Die Veranstalter ließen sich davon nicht beeindrucken. Und so steht an diesem Dienstagabend tatsächlich Sibylle Lewitscharoff  im Foyer der Neuen Nationalgalerie am Rednerpult.

Der Schriftstellerin gelingt eine kluge, sprachlich kraftvolle und überraschend fromme Rede - bei der sie nicht nur über das dritte und vierte Gebot, sondern über alle Gebote spricht. Sie traut sich, was vielen Pfarrern nur noch verschämt über die Lippen kommt: Sie weist ausdrücklich auf den Gottesbezug der Zehn Gebote hin. Dabei spart sie nicht mit Gesellschafts- und Kulturkritik, auch die Kirchen kommen nicht gut bei ihr weg. Ihre Rede enthält aber auch eine ordentliche Portion Selbstkritik.

Lewitscharoff teilt kräftig aus - gegen Fundamentalisten und Frömmler

Beim zweiten Gebot (“Du sollst den Namen des Herrn, Deines Gottes, nicht unnütz gebrauchen”) teilt sie kräftig aus gegen die Fundamentalisten und Frömmler dieser Welt: “Wir dürfen uns keinesfalls der Illusion hingeben, unsere Taten seien durch Gott beglaubigt und gerechtfertigt, nur weil wir uns durch die Erwähnung seines Namens auf der sicheren Seite wähnen“, sagt Lewitscharoff. Sie ist im pietistischen Schwabenland aufgewachsen, ihre fromme Großmutter.hat sie geprägt. “Niemals dürfen wir uns damit brüsten, wir seien die Einzigen, die Gott recht verstünden. Viele Geschichten der Bibel durchkreuzen gerade dieses rechthaberische, zutiefst egoistische Denken.” Nichts sei schlimmer und abschreckender als “Hartherzigkeit im Gewand der Frömmelei“.

Bei diesen Sätzen schwingt ihre Dresdner Rede als Subtext mit - auch wenn die Veranstalter zu Beginn klar gestellt hatten, dass es an diesem Abend nicht darum gehen soll. Mancher Zuhörer mag jetzt an Lewitscharoffs eigene Rechthaberei denken, als sie Retortenkinder diffamierte - und auch an die Vehemenz ihrer Kritiker danach. 

Vom "So-là-là-Christentum" hält Lewitscharoff nicht viel

Wegen ihrer viel kritisierten Äußerungen zu künstlicher Befruchtung und Retortenkindern ist man besonders gespannt, was die Schriftstellerin zum dritten Gebot sagt. Auf einen möglichen Zusammenhang zu ihrer Dresdner Rede geht sie jedoch nicht ein. Du sollst Vater und Mutter ehren, das sei eine hilfreiche Aufforderung, meint Lewitscharoff. Da stehe ja nicht, dass man sie lieben müsse. Um das Gebot zu erfüllen, sei es gut, daran zu denken, dass es eine ideale, fehlerfreie Erziehung nicht geben kann. Und natürlich gelte das Gebot nicht für jene Kinder, die von ihren Eltern misshandelt würden.

Die letzten Strahlen der Abendsonne fallen durch die großen Fenster in die Nationalgalerie - die Rednerin ist beim Sonntags-Gebot angekommen. “Der Sonntag verkommt zu einem reinen Urlaubs- und Kaffeefahrtentag”, sagt Lewitscharoff und betont genüsslich jedes einzelne Wort. Allerdings könne auch sie sich “nur selten dazu entschließen, an diesem besonderen Tag einem Gottesdienst beizuwohnen“. Die Predigten seien auch oft derart banal, dass sie hinterher schlechter gelaunt sei als vorher. Und doch: Vom “So-là-là-Christentum“, von “frei frottierender Religiosität, die sich kaum auf Verpflichtungen einlässt” hält sie nicht viel.

Der Sonntag jedenfalls müsse ein besonderer Tag bleiben. An diesem Tag soll “das von Verpflichtungen und Sorgen bewimmelte Hirn zu sich kommen und das Herz einen inneren Freudenaufschluss erfahren”. Das gelinge eben am besten durch Rituale und Traditionen wie dem Kirchgang. Nach der Lesung wird sie gefragt, was sie Menschen antworte, die ihre “Herzenserhebung” beim Joggen oder Shoppen erfahren? Ihre unmissverständliche Antwort: “Das trägt nicht”. Sie kaufe auch gerne ein, aber dadurch gelange man nicht in eine “andere Sphäre“. Es sei etwas “zutiefst Anderes“, ob man sich beim Sport verausgabe oder von einem “höheren Wesen” ergriffen werde, das einen trägt und auch die Hoffnung weckt, nach dem Tod nicht einfach verscharrt zu werden. 

“Du sollst nicht töten” ist das Gebot, das am einfachsten zu verstehen ist. Aber nur auf den ersten Blick. Lewitscharoff erinnert an die wenigen Kriegsdienstverweigerer 1914, vor denen wir uns heute verneigen. Aber was ist mit den polnischen Untergrundkämpfern nach Hitlers Überfall? Hätten sie sich nicht wehren sollen? Mit Radikalpazifisten kann sie genauso wenig anfangen wie mit Frömmlern und anderen Fundamentalisten.

"Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein"

Draußen dämmert es, immer noch huschen Fotografen um das Rednerpult herum. Geblendet vom Blitzlicht verliert Lewitscharoff einmal kurz den Faden und herrscht die Fotografin an, sie solle aufhören.

Versöhnlicher geht sie mit den Ehebrechern im sechsten Gebot um. Man müsse das Gebot im Kontext seiner Entstehungszeit sehen, sagt sie, als die Menschen früh starben und der Familienzusammenhalt existenziell war fürs Überleben. Dennoch: “Man soll es sich mit dem erotischen Abenteurertum nicht allzu leicht machen”, findet Lewitscharoff - und fügt hinzu, dass sich das in ihrem Alter (60) “ziemlich locker” sagen lasse. Altgewordene Paare, die “eine lange Strecke ihres Lebens gut zusammen verbracht haben“, achte und liebe”sie sehr. Sie seien für sie ein “Sinnbild geglückten Lebens“.

Der Subtext der Dresdner Rede leuchtet noch einmal auf, als sie Jesus mit dem Satz zitiert, mit dem er die Ehebrecherin vor ihren Verfolgern rettet: “Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.. Dieser Satz sei “einer der einschneidendsten Sätze, den ich überhaupt kenne. Wir sollten ihn nicht vergessen, wenn wir andere leichtfertig verklagen.”

Die Auseinandersetzung der vergangenen Monate hat Spuren hinterlassen. Das wird immer wieder deutlich an diesem Abend. Auch, als es um das achte Gebot geht, “Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten”. Lewitscharoff geht es nicht allgemein ums Lügen. Das wäre zu banal. Sie konzentriert sich auf das “Geplapper in Gesellschaft”, auf Klatsch und Tratsch, wenn wir “unsere Feinde und manchmal auch unsere Freunde niedermachen”. Scharf und amüsant klassifiziert sie die Plapperer, Blender und Poser. Auch hier nimmt sie sich selbst von der Kritik nicht aus. Wer sich allem Klatsch enthalten würde, wäre schließlich ein furchtbarer Langweiler.

Was würde sie als elftes Gebot anfügen, will die Moderatorin nach der Lesung wissen? “Da halte ich es ganz mit Robert Gernhardt”, sagt Lewitscharoff: “Du sollst nicht lärmen.” Auch das lässt sich sehr weit auslege

Wie geht es weiter mit der Dekalog-Reihe? Von 7. Mai bis 19. Juli verwandeln Eugen Blume, Matthias Flügge, Frizzi Krella und Mark Lammert die Guardini-Galerie (Askanischer Platz 4, Di bis Fr 12 bis 18 Uhr, Sa 14 bis 18 Uhr) in einen Assoziationsraum zum dritten Gebot (“Du sollst den Feiertag heiligen”) - mit Bildern, Artefakten und Texten. Außerdem werden die Schriftsteller Norbert Hummelt und Angela Krauß gebeten, Texte zum dritten und vierten Gebot zu verfassen. Das Ergebnis ist am 15. Mai, 19 Uhr, in der Guardini Galerie zu hören, und am 14. Juni, 19 Uhr, in der St. Matthäus-Kirche (Kulturforum). Begleitet wird die Lesung von Musik, die Helmut Barbe eigens für diese Lesung zum Psalm 19 komponiert. Außerdem schreiben die Stiftungen einen mit 3000 Euro dotierten Filmpreis aus für Werke, die sich mit dem dritten Gebot beschäftigen. Einsendeschluss: 31. Juli. Infos unter www.guardini.de oder www.stiftung-stmatthaeus.de

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