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Kultur: "Sie irren, ich bin typisch deutsch!"

Für einen Aufbruch in der deutschen Gesellschaft plädiert nicht nur der Bundespräsident.Nach einem Jahr in den USA fordert der Schriftsteller Peter Schneider den ganz großen Ruck in der Republik TAGESSPIEGEL: Die deutsche Linke, die studentenbewegte 68er-Generation, zu der Sie gehören, hat immer eine Haßliebe mit Amerika verbunden.

Für einen Aufbruch in der deutschen Gesellschaft plädiert nicht nur der Bundespräsident.Nach einem Jahr in den USA fordert der Schriftsteller Peter Schneider den ganz großen Ruck in der Republik TAGESSPIEGEL: Die deutsche Linke, die studentenbewegte 68er-Generation, zu der Sie gehören, hat immer eine Haßliebe mit Amerika verbunden.Nach einem Jahr in Washington - was hat überlebt, der Haß oder die Liebe? PETER SCHNEIDER: Vor allem die Sympathie und meine Neugier.Seit Mitte der 80er Jahre war ich oft und länger dort; vor allem der "Mauerspringer" hat mir die Tür geöffnet.Jetzt war ich erstmals ein Jahr am Stück in den USA.Ich kann nur sagen, ich fühle mich dort immer wieder ganz erstaunlich wohl und angesteckt von dem fast unbegreiflichen landesweiten Optimismus.Das ist ja etwas, was uns am allermeisten fehlt. TAGESSPIEGEL: Was müßte sich in Deutschland am dringendsten ändern? SCHNEIDER: Was Deutschland sicher bitter nötig hat, ist, auch in der eigenen Geschichte, Optimismus, Mut und Pioniergeist wiederzufinden: Eigenschaften, die ja gar nicht so undeutsch sind, wie wir inzwischen selber glauben.Haben die Deutschen völlig vergessen, daß sie Fernsehen und Fax erfunden und Abenteurer wie Alexander von Humboldt hervorgebracht haben, oder daß zwischen 1942 und 1945 etwa 10 000 Berliner Familien Juden bei sich versteckt haben? Es wäre absurd, wenn ich sagte, wir sollten stolz auf uns sein.Das kann man nach dem Holocaust nicht.Aber wir sind doch umgeben von Bildern des Untergangs, der Schuld, von lauter Negativbildern, und es ist eigentlich viel bequemer, sich zu suhlen in dieser Schuld, mit dieser Schuldlust, als sich daran zu erinnern, daß es in jeder Situation auch kleine Helden gab.Es ist eine Mentalität, die uns hindert, unsere Probleme zu lösen. TAGESSPIEGEL: Sie hören sich an wie Bundespräsident Roman Herzog. SCHNEIDER: Das ertrage ich.Ich kann nicht, nur um mich zu unterscheiden, das Gegenteil sagen.Aus dem Alter bin ich raus.Aber man muß auch sagen, wer in der deutschen Gesellschaft die größten Bremser sind.Was meinen eigenen Berufsstand angeht, sehe ich einen totalen Stillstand.Der Prozeß der Vereinigung, dieser größte Vorgang in der neueren deutschen Geschichte, findet praktisch ohne intellektuelle Begleitung statt.Die Intellektuellen sind weitgehend mit ihrer Selbstverteidigung befaßt.Viele haben eben Utopien verfolgt, die von der Geschichte widerlegt worden sind.Und statt sich dafür zu interessieren, wie man so ins Unrecht gesetzt werden kann, sind viele damit beschäftigt, zu beweisen, daß sie recht hatten und die Geschichte unrecht.Also: Die Vereinigung an sich war schon falsch, und erst recht das Wie.Es ist so langweilig, wie sich die Intellektuellen dabei auf die Politiker fixieren. TAGESSPIEGEL: Sie selbst sind doch auch ein Kritiker der Vereinigung! SCHNEIDER: In praktischen Fragen.Die Westdeutschen, die nach 50 Jahren Erfahrung mit Demokratie und Marktwirtschaft natürlich vieles besser wußten, waren überhaupt nicht auf ihre Aufgabe vorbereitet, als sie in den Osten kamen.Es fehlte Bescheidenheit, auch Demut.Doch daran, daß das Zusammenwachsen letztlich gelingen wird, habe ich keine Zweifel. TAGESSPIEGEL: Die Schriftsteller wirken erstarrt - ist es das Volk auch? SCHNEIDER: Die heilige Kuh ist der Wähler, vor ihm liegen alle auf dem Bauch.Aber der Wähler will oft die Wahrheit nicht hören und wählt Politiker, die die Wahrheit verhehlen.Wir haben längst die Politiker, die wir verdienen.So müssen wir, was ja nicht so unangenehm ist, auch die Wähler, uns selber, angreifen.Und ebenso das eingeschlafene Unternehmertum, das Steuern schwänzt.Außerdem gibt es eine phantastische Wirklichkeitsverleugnung seitens der Gewerkschaften.Nicht einmal eine Kleinigkeit wie die Reform der Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag ließ sich durchsetzen.Aus allem wird eine Verabredung zur Immobilität, die lebensgefährlich ist.Was man in Amerika sieht, ist die enorme Bereitschaft zur Veränderung.Wenn ein Problem erkannt ist, entsteht ein Konsens: da muß man durch.Es ist ein Konsens in der Zivilgesellschaft, nicht vorrangig in der Politik.In Deutschland wird dieser Konsens von den Politikern nicht mehr abgerufen, und er wird sofort von Interessengruppen auf Null gebracht. TAGESSPIEGEL: Auch Sie rufen also nach dem gesellschaftlichen Aufbruch.Kommt der von den Dichtern und Denkern ? SCHNEIDER: Die Intellektuellen sind doch die Vermittler zwischen den Experten und den "Laien", den Wählern.Die Intellektuellen müssen sich wieder in die Debatte werfen.Man muß mit dem alten Lagerdenken aufhören.Wer auf Kosten nachfolgender Generationen Schuldenberge aufhäuft, um den Sozialstaat zu erhalten, hat sich damit doch nicht als Linker ausgewiesen.Wer erst die Wirtschaft flott machen will, damit es überhaupt wieder etwas zu verteilen gibt, ist deswegen kein Rechter.Solche alten idiotischen Schemata erwürgen das Denken und die Diskussion. TAGESSPIEGEL: Zum Ruck bedarf es gehörigen Selbstvertrauens.Dieses stärken deutsche Schriftsteller selten. SCHNEIDER: Wir müssen positive Bilder aus unserer eigenen Geschichte mobilisieren, damit überhaupt wieder Selbstzutrauen entsteht und die Zuversicht, daß wir, wenn wir handeln, nicht automatisch schaden.Mich packt die Wut, wenn ich sehe, was meine Tochter in der Schule zu lesen bekommt: Dritter Weltkrieg, Deutsche als Opfer, Atomhorror, Desaster, Flucht.Diese Katastrophenlust, dieses sich Suhlen ist ein unglaubliches Phänomen.Auch das Echo auf das Buch von Goldhagen hat es bewiesen.Erst kommt ein hysterischer Aufschrei.Dann merken die Deutschen: die Amerikaner beobachten uns.Augstein macht den angeblich schlechten Goldhagen darauf ein zweites Mal zum "Spiegel"-Titel.Aber wenn jemand positive Felder aus der deutschen Geschichte beleuchtet, wird er publizistisch gelyncht.Der allgemeine Zynismus wird ihn bestenfalls zum Idioten erklären. TAGESSPIEGEL: Will man in Deutschland nur noch Reformen ohne Veränderung? SCHNEIDER: Die Deutschen sind ein Volk von Verwöhnten und Verweichlichten geworden.Der Begriff des Helden ist beschmutzt, also weg mit dem Konzept des Helden.Auf der anderen Seite reden wir von Privilegien.Wir verdienen mehr als die meisten, haben den meisten Urlaub, sind aber nicht mehr die Produktivsten.Der berühmte Ruck kann nur kommen, wenn man den Preis nennt.Während wir nicht mal kleinste Strukturreformen in Angriff nehmen, sehen wir passiv zu, wie Millionen Arbeitsplätze ins Ausland wandern.Das ist diese phantastische Wirklichkeitsblindheit.Wer etwas ändern will, gilt sofort als Sozialmörder.Tüchtige Minoritäten, die nach Millionen zählen, halten ihre Privilegien aufrecht - zunehmend auf Kosten der tatsächlich Depravierten, der Millionen Arbeitslosen.Muß man daran erinnern, daß die Beamten 2000 Mark netto draufgelegt bekamen, wenn sie in den Osten gegangen sind? Solche Privilegien leistet sich sonst keine westliche Gesellschaft.Durchschnittlich vier bis sieben Berufe im Leben, heißt es in Amerika.In Deutschland dagegen werden Lebensstellungen verbittert bis zur Katastrophe verteidigt.Jeder pocht auf sein 13.Monatsgehalt, auf seine Frühpensionierung, auf sein Steuerschlupfloch, als wären es heilige Menschenrechte. TAGESSPIEGEL: Das schreiben die US-Zeitungen täglich über Deutschland.Kamen Sie deshalb dort so gut an? SCHNEIDER: Ich bin ja nun auch im deutschen Kontext eine Art Gegenfigur gegen das Bild des in sich versunkenen Priesterdichters, der sich vom Schmutz der Tagespolitik fernhält.Man hält mich in Amerika für einen atypischen Deutschen, für jemanden, der Humor hat, der schwierige Dinge mit leichter Hand vorträgt und sich schlecht einordnen läßt.Amerikaner fragen mich, warum sind Sie so gar nicht typisch? Ich antworte dann immer, Sie irren sich, ich bin ein typischer Deutscher! Die Ansicht, Deutsche seien schwermütig, stur, humorlos, sprachlich - von Natur aus - wolkig und unverständlich, ist natürlich ein Klischee, das sich nach der Hitlerzeit verfestigt hat. TAGESSPIEGEL: Ihre Frau ist Malerin aus Polen.Läßt sich in Amerika eine neue, europäische Identität verdeutlichen? SCHNEIDER: Meine Frau kann noch so gut deutsch sprechen, sie wird hier immer gefragt, wo kommen Sie her? In den USA ist man nach zwei, drei Jahren Amerikaner.Wir haben längst millionenfach solche Schicksale.Nur die deutschen Politiker wollen das nicht wahrhaben.Und Amerikanern, die noch immer nach deutschen Nazi-Genen Ausschau halten, sage ich: Auch genetisch haben sich die Deutschen sehr verändert. TAGESSPIEGEL: Sie haben Ihre Zeit in Amerika auch dazu genutzt, an einem neuen Roman zu schreiben.Worum geht es? SCHNEIDER: Ein Paar hat die letzten sieben aufregenden Jahre deutscher Geschichte verpaßt.Die beiden erben und kommen aus Amerika zurück.Er ist Naturwissenschaftler, eine Figur aus "Paarungen", und bekommt einen Job im Ostteil Berlins.Ich versuche mit diesem fremden Blick das neue Berlin zu sehen; dabei geht es um Geld, um fremdgeweckte Gier, um Sichausstechen, um Restitution.Ich versuche, tatsächlich eine Art Chronik in Romanform - alles durch diesen verfremdeten Blick eines Zurückkehrenden - über das Berlin nach dem Mauerfall zu schreiben.Das ist mein letzter Berlin-Roman, damit ist eine Trilogie über drei Jahrzehnte in Berlin für mich beendet.Das Buch soll im Herbst 1998 erscheinen. TAGESSPIEGEL: Was erwarten Sie für Berlin mit dem Umzug der Regierung? SCHNEIDER: Seit die Deutschen vereinigt sind, bin ich total gespalten.Wir brauchen die Regierung, das Geld, die Ordnungsmacht gegen den riesigen Ansturm aus dem Osten, aber ich freue mich natürlich nicht darauf, daß ich meine Lieblingskneipen künftig mit Leibwächtern teilen muß.Die Regierung braucht auch Berlin.Von Bonn aus kann man nicht begreifen, in welcher Lage die Deutschen sind.Aber vielleicht schaffen es die Politiker, auch in Berlin, zu begreifen, daß es nichts bringt, wenn sie sich nur per Hubschrauber der Stadt nähern.Ein Indiz, ob es klappt, wird die Frage der Absperrungen sein.In Washington gibt es dieses enorme Selbstvertrauen: Wir haben das Recht, sagen die Amerikaner, das Weiße Haus zu betreten, man kann uns nicht einfach wegsperren.Dieses Risiko wird dem Präsidenten zugemutet.Damit lebt man, damit regiert man auch anders.

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