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Kultur: Siebenmal verfluchte Nacht

Die Unangemessenheit jeder künstlerischen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Judenmord ist nach 1945 immer wieder diskutiert und häufig begründet worden.Weder Literatur noch Musik, weder die Malerei noch andere Formen der bildenden Kunst hätten Mittel entwickelt, die Vorgänge in Auschwitz darstellen zu können.

Die Unangemessenheit jeder künstlerischen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Judenmord ist nach 1945 immer wieder diskutiert und häufig begründet worden.Weder Literatur noch Musik, weder die Malerei noch andere Formen der bildenden Kunst hätten Mittel entwickelt, die Vorgänge in Auschwitz darstellen zu können.Die Warnung vor einer inadäquaten Ästhetisierung und Trivialisierung menschlichen Leidens stand dabei immer in einem gespannten Verhältnis zu der ebenso eindringlichen Mahnung, die Opfer der Vernichtung nicht zu vergessen.Das Dilemma, das aus dieser Gleichzeitigkeit von Erinnerungsgebot und Darstellungsverbot erwächst, durchzieht das umfangreiche Werk des Schriftstellers Elie Wiesel.Als Überlebender der Lager nicht schweigen zu dürfen, auch wenn das Sprechen unmöglich ist - dieses Paradox hat sein Leben bestimmt.

Elie Wiesel wurde 1928 in der kleinen siebenbürgischen Stadt Sighet geboren, die damals zu Ungarn gehörte.Er wächst in einer vom Chassidismus geprägten religiösen Familie auf.Noch im Jahr 1943, so hat er es in seinem ersten und wohl bedeutendsten Buch "Die Nacht" von 1958 geschildert, setzen die Juden von Sighet auf das Vorrücken der Roten Armee und einen baldigen Sieg der Alliierten.Doch 1944 marschieren die Deutschen ein, ein Ghetto wird errichtet und bald beginnen die Deportationen.In Auschwitz angekommen, wird die Familie auseinandergerissen, seine Mutter und die drei Schwestern wird Wiesel nie wiedersehen.Mit dem Vater kämpft er fortan um das Überleben im Lager.Am Ende des Todesmarsches nach Buchenwald, nur wenige Tage vor der Befreiung durch amerikanische Soldaten, stirbt der Vater.

Elie Wiesel ist der einzige Überlebende seiner Familie.Doch es dauert zehn Jahre, bis es ihm, ermutigt von dem französischen Schriftsteller-Freund François Mauriac, gelingt, erstmals Zeugnis abzulegen im Namen der Toten.Ihnen will er eine Stimme geben.Nach dem Krieg war Wiesel nach Paris gekommen.An der Sorbonne studierte er Literatur und Philosophie, später wurde er Auslandskorrespondent der israelischen Tageszeitung "Jediot Acharonot".1956 ging er als UNO-Berichterstatter nach New York und wurde amerikanischer Staatsbürger.

"Niemals werde ich diese Nacht vergessen, die erste Nacht im Lager, die mein Leben in eine lange und siebenmal verfluchte und siebenmal verriegelte Nacht verwandelt hat." So hebt Wiesels siebenfaches Gelöbnis an, wie er es in dem autobiographischen Roman "Nacht" formuliert hat und mit seinen etwa vierzig Büchern, darunter Romane, Autobiographien und Essays, zu erfüllen suchte.Wiesels Werk ist zum Inbegriff einer authentischen Erinnerungsliteratur des Holocaust geworden, obwohl ein genauerer Blick zeigt - die biblische Rhetorik des Erinnerungs-Gelübdes deutet es an -, mit welcher stilistischen und ästhetischen Sorgfalt er seine literarischen Texte gestaltet.Wiesels Schreiben wird von einer religiösen Frage vorangetrieben: Wo war Gott in Auschwitz? Das Leitmotiv seines Werks, die Gefahr des Vergessens, ist auch ein theologisches: "Jude sein, heißt sich zu erinnern", sagt Wiesel, der als Jugendlicher aus einem tiefen Glauben gerissen wurde und seither von der Frage verfolgt wird, ob die Juden in Auschwitz "von Gott vergessen" waren.

Wiesel hat zwar stets die Einzigartigkeit des Judenmords betont ("Nicht alle Opfer waren Juden, aber alle Juden waren Opfer."), sich aber immer auch für andere von den Nazis verfolgte Gruppen eingesetzt.Sein kompromißloses Eintreten für unterdrückte Minderheiten, sein aus einem Geist der Menschenliebe und der Versöhnung stammendes Engagement, mit dem er sein eigenes Diktum, daß in Auschwitz auch die Idee des Menschen gestorben sei, in der Praxis zu widerlegen scheint, wurde 1986 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

"Wenn die Griechen die Tragödie erfanden, die Römer den Sendbrief und die Renaissance die Sonette, so hat unsere Generation eine neue literarische Form erfunden: die Zeugnisse", hat Elie Wiesel einmal geschrieben.Wie kein anderer hat er sein Leben als Schriftsteller und als öffentliche Figur in den Dienst der Erinnerung an die Opfer gestellt.Doch noch immer wird er von der Furie des Vergessens heimgesucht.Er weiß, daß die Schrift allein das Gedächtnis nicht wachhalten kann und sorgt sich, was geschehen mag, wenn die letzten überlebenden Zeugen verschwunden sein werden.Heute feiert Wiesel seinen siebzigsten Geburtstag.

THOMAS RATHNOW

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