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Szene aus "We Are Never Alone" von Petr Vaclav.

© Berlinale

Siegerfilm der Tagesspiegel-Leserjury: Eine dunkle Märchenwelt, erschreckend real

Unsere Leserjury sah 34 Weltpremieren im Forum und kürte „We Are Never Alone“ von Petr Vaclav zum Siegerfilm. Der Regisseur buchte für die Verleihung sofort einen Flug zurück nach Berlin.

Da sind es nur noch drei. Nach all dem Diskutieren, dem leidenschaftlichen Abwägen kann sich das Gros der Jury darauf einigen. Drei von 34 Weltpremieren, die sie im Forum gesehen hat. Einer wird der Gewinnerfilm.

Bevor das Festival startete, hatte Forumsleiter Christoph Terhechte den neun Jurymitgliedern gesagt: kein Kompromiss-Kandidat, wählt einen Film, für den die Mehrheit wirklich brennt. Das nimmt sich die Jury zu Herzen. Es geht hoch her, beinahe zwei Stunden lang, dann fällt die Entscheidung, für das tschechische Drama „We Are Never Alone“ von Petr Vaclav. Weil, so formulieren die Neun es in ihrer Begründung, der Regisseur darin eine Welt erschafft, „in der sich gesellschaftliche Brüche vielfältig widerspiegeln. Mit grotesken Figuren wird eine Geschichte erzählt, die den Zuschauer in vielerlei Hinsicht fordert und in Bann zieht.“

An den Rand des Wahnsinns

Von Anfang an sorgte der Film für Diskussionsstoff. „Es hat wehgetan, ihn zu sehen“, sagt Albert Warth, „und trotzdem ist er irgendwie hoffnungsvoll“. „We Are Never Alone“ spielt in einem tschechischen Provinzort, in dem irrlichternde Seelen aufeinander treffen, ein obsessiver Hypochonder, der täglich seine Leberflecken fotografiert, ein Gefängniswärter, den seine Paranoia an den Rand des Wahnsinns treibt, eine Romni-Stripperin, der ihr Barchef auf die Pelle rückt. Ulrike Kahle-Steinweh fühlt sich in eine „dunkle Märchenwelt“ versetzt, die zugleich erschrecken real ist, „bevölkert von absonderlichen Menschen, beschädigt durch das sozialistische System, hilflos nach dessen Ende“. Der Film, davon ist in der Jury immer wieder die Rede, spiegele das aktuelle Europa, die Mischung aus Verwirrung und Vorurteilen, auch den brutalen Rechtsruck großer Teile der Gesellschaft.

Petr Vaclav (mit Blumen) mit der Leserjury des Tagesspiegels.
Petr Vaclav (mit Blumen) mit der Leserjury des Tagesspiegels.

© Thilo Rückeis

Er buchte auf der Stelle einen Flug

Regisseur Petr Vaclav, Jahrgang 1967, fügt bei der Preisverleihung am Samstagmittag im Konferenzsaal des Grand Hyatt hinzu, wie wichtig ihm die Arbeit mit den Schauspielern war. Er dankt ihnen allen, den Profis und den Laien, auch Roma sind dabei. Vaclav lebt zur Zeit in Paris, er war am Freitag wieder dorthin zurückgereist. Er hatte kaum seinen Koffer abgestellt, als er die Nachricht vom Leserjury-Preis erhielt – auf der Stelle buchte er wieder einen Flug nach Berlin für Samstagmorgen.

Der Preis bedeutet ihm viel, „denn ich weiß nicht, ob der Film überall auf den Markt kommen wird“. Realisiert hat Vaclav die Low-Budget-Produktion mithilfe diverser Stiftungen. „Ich wollte einen Film machen, der das Leben in all seiner Ambivalenz zeigt. Die Trauer, die Freude, die Grausamkeit, die Ironie.“ Vaclav hofft auch, dass dieser Publikumspreis es ihm leichter macht, seine nächsten Projekte zu realisieren.

Die Vorführung des Preisträgerfilms am Sonntagabend ist für die Jury der krönende Abschluss ihres Berlinale-Marathons: „Toll, dabei gewesen zu sein“, betont Student Marcel Golbs. Die Germanistin Rosemarie Wirthmüller pflichtet ihm bei: „Auch wenn es kontrovers war, wir haben einander zugehört.“ Und Ulrike Kahle-Steinweh resümiert: „Ich vermisse die Jury jetzt schon. Allein ins Kino? Puh.“

Vorführung von „We Are Never Alone“ So 21.2., 19.30 Uhr, Akademie Künste am Hanseatenweg, in Anwesenheit des Regisseurs und der Jury. Es gibt Restkarten.

Giacomo Maihofer

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