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Sieglinde Geisel: Stiller Luxus im Weltall

Sieglinde Geisels wunderbares Buch über den Lärm und die Sehnsucht nach seiner Abwesenheit.

Die Dame war so reich, dass sie unsichtbar blieb. Es stellte sich nur eine Telefonverbindung nach Südamerika her, wo sie gerade weilte. Ich sollte einen Text schreiben über ihre kunstvoll ausgestattete Zweit- oder Drittwohnung in der westdeutschen Provinz, durch die ich von Angestellten in ihrer Abwesenheit geführt worden war. Die Dame war zuvorkommend, sie gab bereitwillig Auskunft. Charmant stellte sie die Illusion her, man unterhalte sich von gleich zu gleich, indem sie das Gespräch auf das Thema Kinder lenkte. Mit Kindern machten alle Eltern dieser Welt ähnliche Erfahrungen, der Normalbürger wie die Vielfachmillionärin. Das Gespräch gehorchte einer feinen Dramaturgie. Der Stolz auf die aus allen Weltregionen zusammengetragenen Kostbarkeiten war nicht zu überhören. Gleichzeitig achtete die Dame darauf, keineswegs entrückt zu wirken. „Ach“, sagte sie schließlich, die Sachen seien eigentlich „nicht so wichtig“. Das schönste an der Wohnung sei ohnehin „ihre Stille“, die Ruhe, die von der sie umgebenden Landschaft ausgehe. Denn: „Freie Zeit und Stille“ – das sei der wahre Luxus. Die Stille als Ausdruck von Exklusivität und Gleichheit. Wie raffiniert!

Dieses verblüffende Gespräch fiel mir wieder ein, als ich das verblüffende Buch „Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille“ der Schweizer Journalistin Sieglinde Geisel las. Denn auch bei Geisel geht es um die Stille als Statussymbol – unter anderem zumindest. Das Buch, das Geisel „eine Meditation“ nennt, erzählt von vielerlei.

Als Erstes sammelt es viele Geräusche, in dem es sie schlicht aufruft und in Listen zwischen den einzelnen Abschnitten aufführt. Den reichen Klang von Kirchenglocken, das beruhigende Meeresrauschen. Die quälenden Schreie von Tieren, die Schmerzen haben. Das Kreischen der Kreissäge, das harmlose Tropfen des Wasserhahns, das auf Dauer zur akustischen Folter werden kann. Quasi eingebettet in diese Geräuschkulisse, macht sich Geisel dann in fünfzehn kurzen Kapiteln Gedanken über das Geräuschemachen und Geräuschehören und versucht mithilfe literarischer Quellen signifikante Geräusche anderer Epochen festzumachen. In der Antike war, nach Cicero, zum Beispiel das „Kreischen der Säge, wenn sie geschärft wird“, sehr gefürchtet. Überhaupt machten die Menschen mit der Metallverarbeitung erstmals die Erfahrung, dass „Hören weh tun kann“.

Verblüffend ist dieses Buch jedoch nicht so sehr wegen seiner Sammelleidenschaft, sondern weil es uns etwas ins Bewusstsein ruft, was wir täglich erfahren, ohne uns darüber immer im Klaren zu sein: Lärmmachen und Hören sind soziale Akte. An und mit Lärm werden regelrecht Machtkämpfe ausgefochten und Gesellschaften ausdifferenziert. Die Stille als Statussymbol ist eine Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft, die mit der Moderne und den immer lauter werdenden Städten den Typus des lärmempfindlichen Kulturmenschen hervorgebracht hat – und mit ihm die Verachtung für lärmende Handwerker. 1908 schreibt der Schriftsteller und Philosoph Theodor Lessing in der Schrift „Der Lärm“: „Kultur ist Entwicklung zum Schweigen.“

Interessanterweise stört sich der Mensch nicht (oder nur selten) an Geräuschen aus der Natur, wie etwa am Grollen des Donners. Heikel wird es, wenn das Geräusch von Menschen gemacht ist. Dann wird es schnell zum Lärm, zu etwas, das man als Angriff empfindet. „Das Ohr ist die seelische Achillesferse des Menschen, und es lässt sich bequem aus der Ferne erreichen...“, schreibt Geisel. Und: „Lärm entsteht erst im Zusammenleben der Menschen, deshalb führt das Nachdenken über den Lärm unweigerlich zu sozialen Fragen. Wer belästigt wen. Und wer darf wen belästigen?“

Geisel macht die Beobachtung, dass „der Lärm von unten kommt“. Man reagiert empfindlicher auf Geräusche, deren Verursacher man als Instanz nicht anerkennt. Das Pöbeln von Jugendlichen, der Lärm von Betrunkenen empört uns, „weil sie in der sozialen Hierarchie ganz unten stehen“. Umgekehrt wurde der Lärm von oben immer schon als als Waffe eingesetzt. So haben die Amerikaner Terrorverdächtige mit Lärm gefoltert. Die Häftlinge wurden mit lauter Musik beschallt. Der Titelsong der Sesamstraße erwies sich dabei als äußerst wirkungsvoll. Ein Soldat berichtete: „Wenn man es 24 Stunden lang spielt, geraten die Gehirn- und Körperfunktionen ins Rutschen, das Denken verlangsamt sich, und schließlich ist der Wille gebrochen.“ Die deutsche Wehrmacht setzte im Zweiten Weltkrieg die „Jericho-Trompete“ ein, die beim Bombenabwurf am Fahrgestell des Flugzeugs heulte und den Feind über den Radius der Sprengbombe hinaus in Angst versetzen sollte.

In solchen extremen Fällen ist klar, dass der Lärm zerstörerisch eingesetzt wird. Diffiziler wird es im Alltag. Wo ist der Ärger über den Lärm berechtigt? Wo beginnt die hysterische Überempfindlichkeit, wo die eingebildete böse Absicht, die Groll erzeugt, für die es (fast) gar keinen Anlass gibt? Weil man den Lärm hört, den Lärmfabrizierer aber meist nicht sieht, lädt das Geräusch ja zu wilden Projektionen ein. Dabei gilt: Je argwöhnischer ich der Umgebung gegenüber eingestellt bin, desto mehr stören mich ihre Geräusche. Was tun? Die lautstarke Beschwerde kann es nicht sein, sie gerät selbst zu Lärm. Lärmbestimmungen helfen natürlich, die Krachlust des einen und das Ruhebedürfnis des anderen in der Waage zu halten, aber sie lösen nicht das Problem, weil sie den Lärm zwar minimieren, aber nichts an der Empfindlichkeit ändern.

Am besten, so schlussfolgert Geisel, geht man die Sache dort an, wo sie entsteht, nämlich im eigenen Kopf. Der souveräne Zeitgenosse, das empfahl schon Seneca, sollte sich nicht so sehr an den Krach des anderen verlieren, sondern auf seine eigene innere Ruhe konzentrieren. Wenn er das tut, verwandelt sich wundersamerweise der Lärm und wird wieder zum Geräusch, das da ist, aber nicht mehr stört.

Es kann aber auch sein, dass sich dann überhaupt erst das wirkliche Dilemma offenbart: Welche innere Ruhe denn? Es spricht vieles dafür, dass es gar nicht die Welt ist, die immer lauter wird, sondern nur dieser Eindruck entsteht, weil wir kollektiv immer nervöser und zerstreuter werden. Weil der Kopflärm immer hochtouriger dröhnt, dieses Gemisch aus aufpoppenden Nachrichten und plappernden Gedanken, angetrieben von der Sorge, etwas zu verpassen, der Angst, etwas zu vergessen. Gut möglich also, dass man nach der unterhaltsamen Lektüre dieses lehrreichen Buches gleich nach dem nächsten greift. „Ich bin dann mal offline“ heißt es. Oder: „Ohne Netz“.

Sieglinde Geisel: Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille.

Galiani Verlag, Berlin 2010. 168 S., 16,95 €.

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