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Sigrid Löfflers "neue Weltliteratur": Das Erbe der einsamen Londoner

„Die neue Weltliteratur“.

Unbemerkt explodiert die neue Weltliteratur an den Rändern der einstigen Kolonialmächte vor sich hin. Diesem Phänomen ist die Literaturkritikerin und Publizistin Sigrid Löffler auf der Spur. Mit den Nobelpreisträgern Doris Lessing aus Rhodesien, J.M. Coetzee aus Südafrika und V.S. Naipaul aus Trinidad hat Löffler drei Galionsfiguren als Türöffner für ihre sechzig Jahre umfassende Anthologie ausgewählt. Sie alle kamen zwischen 1947 und 1962 nach London, als sich das gewaltige British Empire längst in Auflösung befand. Am 22. Juni 1948 legte das jamaikanische Schiff „Empire Windrush“ an der Themsemündung an. Dessen 493 Passagiere gelten als „Generation Windrush“, als Vorhut einer Einwanderergeneration, die zu einer „innerbritischen Rekolonialisierung der Entkolonisierten“ geführt habe. Als literarische Zeugnisse dieser Entwicklung präsentiert Löffler den Naipaul-Roman „The Enigma of Arrival“ oder den „postkolonialen Urtext“ „The Lonely Londoners“ von Sam Selvon aus Trinidad. Sie schildert die Migration als Transitorium, als hybriden „dritten Raum“ zwischen Aufbruch und Ankunft. Da sich die Zuwanderer im britischen Mutterland nicht willkommen fühlten, findet sie die schöne Formulierung von der „Melancholie als gewaltiger Produktivkraft“.

Der Zerfall des Empire bildet zunächst das topographische und chronologische Gerüst der Anthologie, die anfangs noch sehr konzise ist. Davon ausgehend spannt Löffler ein narratives Netz bis in die Gegenwart, indem sie rund fünfzig Migranten und/oder Sprachwechsler von der britischen Bangladescherin Monica Ali bis zum Iraker Najem Wali in ihrem jeweiligen nationalen Kontext und mit ihren Hauptwerken ausführlichst vorstellt.

Die Präsenz englischsprachiger Autoren ist übermächtig. Frankophone Erzähler aus Afrika, dem Maghreb oder dem Libanon befinden sich in der Minderheit. Löffler rühmt das Englische als „besonders demokratische“ Sprache, die durch immer neue Einwanderungswellen bereichert, ja „kreolisiert“ werde. Da liegt es nahe, dass der pakistanische Shootingstar Mohsin Hamid, Salman Rushdie oder anglophone Afrikaner wie die selbsterklärte „Afropolitin“ Taiye Selasi oder Teju Cole en détail gewürdigt werden.

Da Sigrid Löffler ausdrücklich Orientierungshilfe für das deutschsprachige Publikum bieten will, muss sie sich notgedrungen auf Übersetzungen beschränken. Das ist das Hauptproblem dieser ansonsten überfälligen Anthologie: Einige Kapitel wie das zum Irak fallen sehr kursorisch aus, in anderen wie dem zu Ex-Jugoslawien muss viel Bekanntes wiederholt werden. Von den deutsch schreibenden Migranten tauchen der aus Bosnien stammende Saša Stanišic auf oder Abbas Khider im Irak-Kapitel. Eine so erfolgreiche Autorin wie Terézia Mora wird anscheinend als bekannt vorausgesetzt.

Zudem leuchtet nicht ein, warum als „Arrival Cities“, Ankunftsstädte, nur New York, Mumbai und Toronto genannt werden, Zuflucht vieler russischer Juden aus dem Baltikum. Was ist mit Paris? In diesen Passagen beruft sich Löffler auf den Reportageband „Arrival Cities“ von Doug Saunders, demzufolge sich ein Drittel der Erdbewohner auf Wanderschaft befindet. Offenbar ging es ihr darum, eine möglichst außereuropäische Perspektive einzunehmen. Das hat bei Löfflers Erkundungen auf dem indischen Subkontinent oder unter den Schriftstellern Nigerias seit Chinua Achebe reiche Früchte getragen. Doch wo bleibt die Inderin Kiran Desai? Wo die frankophonen Afrikaner von Léopold Sédar Senghor bis zu Fatou Diome, die Chinesen wie der Lyriker Yang Lian oder der Romancier Ha Jin? Auf dieser rasanten Fahrt durch die neue Weltliteratur wurden sie wie hinderliche Anhalter am Wegesrand stehen gelassen. Katrin Hillgruber

Sigrid Löffler: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler. C.H. Beck Verlag, München 2013. 344 Seiten, 19,95 €Buchpremiere am Do, 5.12., 20 Uhr, Literaturhaus Berlin, Fasanenstr. 23

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