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Zehn Jahre Berlin. Sir Simon ist seit 2002 Chefdirigent der Philharmoniker.

© EMI/Thomas Rabsch

Simon Rattle: Swing is it!

Ein Höhepunkt des am Freitag startenden Berliner Musikfests wird „Porgy und Bess“ konzertant: Philharmoniker-Chefdirigent Simon Rattle über seine Liebe zu Gershwin und die Tücken des Jazz.

Sir Simon, beim Musikfest Berlin steht die Musik der USA im Mittelpunkt, Sie werden mit den Berliner Philharmonikern „Porgy and Bess“ konzertant aufführen. Welche Beziehung haben Sie zu George Gershwin?
Ich bin mit seiner Musik aufgewachsen, genau wie Nikolaus Harnoncourt übrigens. Mein Vater spielte Gershwin-Songs auf dem Klavier, seit ich mich erinnern kann. Als Grundschulkind veranstaltete ich im Wohnzimmer Sonntagsnachmittagskonzerte, bei denen ich zu Schallplatten Schlagzeug spielte. Da war viel Gershwin dabei. Und bei einem meiner ersten öffentlichen Auftritte war ich als 11-Jähriger Klaviersolist in der „Rhapsody in Blue“.

Ihr Vater war damals sehr kritisch mit Ihrer Interpretation ...
Er wollte, dass es auf keinen Fall steif klang. Es sollte locker sein, so wie Jazz locker ist. Das herzustellen ist nicht leicht, für niemanden. Selbst Wynton Marsalis hat mir erzählt, dass er sich bei den Proben mit seiner Band tagtäglich die Frage neu stellt: Are we really swinging?

Wie kann man die Faszination Gershwins beschreiben?
Für mich gehören Gershwins Werke zu den ungekünstelt fröhlichsten und gleichzeitig zutiefst ehrlichsten, die es gibt. Auf seine eigene, spezielle Art reicht er an die ganz Großen heran. Als Gershwin, der ja aus der Popularmusik kam, ins klassische Feld vorstieß, wussten die Leute allerdings nicht recht, wie sie mit dieser Musik umgehen sollten. Er servierte ihnen eine köstliche Mahlzeit – aber sie waren unsicher, ob es ihnen schmecken durfte. Die Zutaten waren so vielfältig. Gershwins Swing kommt zum einen von der Tin Pan Alley, der legendären Straße in Manhattan, in der die wichtigsten Musikverlage residierten. Hier hatte er ja als Pianist begonnen, der den potenziellen Käufern die neuen Schlager vorspielte. Aber da sind natürlich auch Einflüsse der black music, von Spirituals, aus allen Quellen des Jazz.

In seiner Oper „Porgy and Bess“ hat er diese Einflüsse zusammengeführt?
Ja, aber nicht nur. Als er 1928 von seiner ausgedehnten Europareise zurückkam, war er voll des Lobes für Alban Bergs Oper „Wozzeck“. Das Stück hatte ihn umgehauen, man findet Einflüsse von Berg in der Partitur. Leider werden diese Passagen fast immer gestrichen und „Porgy and Bess“ wurde eine Art Nummernoper. Natürlich gibt es hier genauso viele Hits wie in „Carmen“, aber da ist noch viel mehr. Wir werden beim Musikfest die komplette Partitur spielen, wahrscheinlich zum ersten Mal in Berlin. Es wird ein langer Abend mit über drei Stunden Musik.

1976, mit 21 Jahren, dirigierten Sie die Oper zum ersten Mal. Dann 1977 sofort wieder und 1981. 1986 standen Sie bei der legendären Produktion von Trevor Nunn in Glyndebourne am Pult. Was motiviert Sie, „Porgy and Bess“ jetzt konzertant aufzuführen?
Die Idee kam von Winrich Hopp. Ehrlich gesagt, ich hätte nicht die Chuzpe gehabt, ein so kompliziertes, teures Projekt vorzuschlagen. Er sagte, er wolle ein amerikanisches Festival machen, mit einem Überblick von Charles Ives über Gershwin bis zu aktuellen Strömungen, natürlich habe ich sofort zugesagt! Als wir das Orchestermaterial, das ich immer benutzte, beim Verlag anforderten, wurde uns allerdings mitgeteilt, es sei verloren gegangen. Eine Tragödie! Da standen hunderte Hinweise drin, wo die Musiker swingen sollen, wo nicht, alle dynamischen Feinheiten. Bei einer „normalen“ Oper würde so etwas nie passieren! Also versuchte ich zu rekonstruieren, was ich einst eingetragen habe.

Haben Sie in dem Moment bereut, das Projekt angenommen zu haben?
Carlo Maria Giulini, der große, 2005 verstorbene Dirigent, sagte mir einmal: Wenn ich ein Stück 30 Jahre lang dirigiert habe, werfe ich die Partitur weg und fange noch mal von vorne an mit der Analyse. Da entdeckt man oft überraschende Dinge. Vielleicht wollte mir das Schicksal sagen, dass auch ich mich noch mal ganz neu über „Porgy and Bess“ beugen sollte.

Können europäische Orchester überhaupt den Geist dieser Musik erfassen?
Als ich die Oper zum ersten Mal mit dem London Philharmonic Orchestra machte, waren die Musiker erstaunt, wie schwierig sie ist. Einer sagte: Wir können problemlos Bergs „Wozzeck“ spielen oder Gershwins „An American in Paris“. Aber hier muss man ständig zwischen beidem hin und her wechseln. Da ist die komplizierte Fuge, die die Kampfszenen begleitet, in der man sich von einem Takt zum anderen in einer Jazznummer wiederfindet. Gershwin war unendlich begabt – allerdings vernebelte er seine Talente gern und behauptete sogar, Partituren nicht richtig lesen zu können. Was nicht sein kann, wenn man sich seine Werke anschaut.

In Berlin haben Sie Gershwin bisher nur in Silvesterprogrammen gespielt. Haben die Philharmoniker Bammel vor dem Stück?
Na klar, es ist schwer. Die Musik ist rhythmisch so sophisticated, anspruchsvoll wie die französische Barockmusik eines Jean Philippe Rameau. Aber die Philharmoniker werden sich restlos in die Musik verlieben. Emotional ist es eine der stärksten Opern des 20. Jahrhunderts überhaupt. Die Musiker sind zudem so gut im Zuhören, dass sie schnell von den Sängern lernen. Wir werden Willard White dabeihaben, mit dem ich alle „Porgy and Bess“-Produktionen gemacht habe, der Chor kommt aus Südafrika. Zudem gönnen wir uns zwei Probenphasen, die erste gleich nach unserer Sommertournee. Danach kann man die Musik sacken lassen – oder wie verrückt zu Hause weiterüben. Eines ist sicher: Wir werden an den Fingernägeln knabbern! So muss es auch sein.

In einem „Spiegel“-Interview berichtete Nikolaus Harnoncourt 2009 von einem Gespräch über „Porgy and Bess“, bei dem Sie gesagt haben sollen: „Du hast keinen Pass für dieses Stück. Den habe ich.“
Ich musste laut lachen, als ich das las. Ich kann mich an unseren wunderschönen Nachmittag in Amsterdam erinnern, aber absolut nicht an diese Antwort. Es ist ja so leicht, sich misszuverstehen! Wir sprachen über die „Fledermaus“ und „Porgy and Bess“; am Ende waren wir uns einig, dass ich besser die Finger von der „Fledermaus“ lassen sollte. Harnoncourt hat dagegen „Porgy and Bess“ gemacht und auf CD eingespielt. Ich weiß, wie sehr er das Stück liebt, und finde es spannend, wie er es macht, auf seine eigene, gelehrte Art. Was den „Pass für Porgy“ betrifft, so hat man den als Engländer wirklich nicht automatisch! Bei den Proben in Glyndebourne kam der ausschließlich mit Schwarzen besetzte Chor zu mir und sagte den unvergesslichen Satz: „Wenn Sie Spirituals dirigieren, merken wir, dass Ihr Ururgroßvater nichts mit Baumwolle zu tun hatte.“ Eine echte Kofi-Annan-Formulierung …

Worauf freuen Sie sich beim Musikfest 2012 am meisten?
Es gibt so viel Spannendes, dass man nur noch im Konzertsaal sitzen möchte. Ich frage mich, wann ich schlafen soll in diesen Tagen! Ich will möglichst alles von Charles Ives hören und die verrückten Sachen von John Cage. Keiner sollte „Nixon in China“ verpassen, dirigiert vom Komponisten John Adams persönlich, auch nicht Sylvain Cambrelings „Moses und Aron“- Interpretation. Ich kann den Leuten nur zurufen: Geht hin, vertraut Winrich Hopp, wagt einen walk on the wild side!

Das Gespräch führte Frederik Hanssen.

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