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Auftakt. Sir Simon hat mit seinem künftigen Ensemble, dem London Symphony Orchestra, eine Schumann-Aufnahme eingespielt. Foto: dpa

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Simon Rattle und das London Symphony Orchestra: An der Himmelspforte

Erste Aufnahmen und die Pläne für den neuen Konzertsaal: Wie Simon Rattle und das London Symphony Orchestra sich für die Zukunft warmspielen.

Das könnte ein ziemlich anstrengender Dauerspagat werden. Seit März letzten Jahres ist Simon Rattle designierter Music Director des London Symphony Orchestra (LSO). Der Amtsantritt ist auf den September 2017 terminiert, sein Vertrag als Leiter der Berliner Philharmoniker aber läuft noch bis zum Sommer 2018. Er wird eine Spielzeit lang also parallel als Chef in zwei Städten präsent sein. Weil die großen Kulturinstitutionen ihre Termine jeweils Jahre im Voraus festlegen, erwartet man zudem von Rattle, dass er schon jetzt in London jede Menge künstlerisch richtungsweisende Entscheidungen trifft.

Und dann ist da auch noch die Sache mit dem Konzerthaus. Seit einer halben Ewigkeit kämpfen britische Künstler darum, dass London neben den akustisch nur bedingt erfreulichen Sälen der Royal Festival Hall und des Barbican Centre endlich einen Ort für die Klassik erhält, der Weltklasse besitzt. Mit der Rückkehr des verlorenen Sohnes aus Berlin scheint diese Vision nun Wirklichkeit zu werden.

Zwar dementiert das LSO einen direkten Zusammenhang zwischen der Verpflichtung von Sir Simon und der Bereitschaft der Politik, in ein neues Kulturzentrum zu investieren. Doch Hauptnutznießer des Projekts werden der 1955 in Liverpool geborene Dirigent und das Orchester sein. Gerade wurde eine erste Machbarkeitsstudie veröffentlicht, die eine Bausumme von rund 278 Millionen Pfund (378 Millionen Euro) ansetzt. 200 Millionen Pfund sollen vom Staat kommen, der Rest von Mäzenen und Sponsoren – wobei derjenige, der sich am großzügigsten zeigt, das Recht erhält,dem Haus seinen Namen zu geben. 1900 Plätze sind für die neue Halle vorgesehen, die gleich um die Ecke vom Barbican Centre entstehen soll. Dafür wird das Museum of London eigens seinen jetzigen Standort räumen und auf ein größeres Areal am nahe gelegenen Smithfield Market umziehen.

Die neue Londoner Konzerthalle soll ein "open house" sein

Durch den Umbau der aktuellen Konzerthalle des Barbican zu einem Ort für alle Musikgenres von Jazz und Weltmusik bis hin zu Pop und Zeitgenössischem würde ein ganzes Kreativquartier entstehen. Das neue Gebäude soll ein open house sein, das der Besucher nicht nur zu den abendlichen Aufführungszeiten, sondern ganztägig betreten kann, ein Ort vielfältigster Education-Aktivitäten und zugleich eine Ausbildungsstätte der Guildhall School of Music and Drama. Auf lange Sicht könnte das Projekt der britischen Wirtschaft durch Steuern, Abgaben und die Effekte der sogenannten Umwegrentabilität eine Wertschöpfung in Höhe von 890 Millionen Pfund zuführen. So hoffen es jedenfalls die Verfasser der 250-seitigen Studie.

Erstmals hätte das London Symphony Orchestra dann auch die Möglichkeit, seine Proben in dem Saal abzuhalten, in dem auch die Konzerte stattfinden – so wie es die Berliner Philharmoniker gewohnt sind. Auf diese Weise könnten die Arbeitsbedingungen derart verbessert werden, dass aus dem Kreis der vielen guten Orchester in Großbritannien endlich eine Weltspitzen-Formation hervorgeht.

Sir Simon probt mit seinem künftigen Ensemble, dem London Symphony Orchestra, das er ab Herbst 2016 leiten wird. In Berlin bleibt er trotzdem parallel bis 2018.
Sir Simon probt mit seinem künftigen Ensemble, dem London Symphony Orchestra, das er ab Herbst 2016 leiten wird. In Berlin bleibt er trotzdem parallel bis 2018.

© kevin Leighton/LSO

Dass bis dahin noch ein Stück Weg zurückzulegen ist, zeigt die erste CD-Produktion, die die Musiker und ihr künftiger Chef gemeinsam herausgebracht haben. Erschienen ist sie bei „LSO live“, einem Label, das schon 1999 von den Orchestermitgliedern selber gegründet wurde. Das Label war eine der ersten orchestereigenen Plattenfirmen überhaupt. Die Berliner Philharmoniker verfügen erst seit 2014 über einen entsprechenden Vertriebskanal, der sie unabhängiger machen soll von den profitorientierten Kalkulationen der Branchen-Majors. Sechs bis sieben CDs bringt „LSO live“ pro Jahr heraus, wobei die Musiker selber über das Repertoire entscheiden können und nur Aufnahmen absegnen, mit denen sie künstlerisch hundertprozentig zufrieden sind.

Die Schumann-Aufnahme überzeugt nicht restlos, trotz Samtklang

Mit Robert Schumanns Oratorium „Das Paradies und die Peri“ haben sich Rattle und das Orchester für den Beginn ihrer neuen Beziehung ein Werk ausgesucht, dessen Ästhetik dem heutigen Hörer recht fern ist: Die Tochter eines gefallenen Engels und einer Menschenfrau versucht sich von der Erbschuld ihrer unreinen Geburt reinzuwaschen, indem sie den Wächtern der Himmelspforte zuerst den letzten Blutstropfen eines indischen Kriegshelden, dann den finalen Seufzer einer ägyptischen Liebenden und schließlich die Träne eines reuigen syrischen Sünders überbringt. In dem auf Thomas Moores „Lalla Rookh“-Dichtung basierenden Text bilden Naivität, Exotismus und Frömmelei eine wüste Melange.

Auch die Musik, die Schumann 1843 komponierte, in einem seiner wenigen glücklichen Lebensjahre, schillert stilistisch äußerst bunt, erinnert sowohl an „Ännchen von Tharau“ wie an „Lohengrin“. Volkslied steht neben Arie, opernhafter Schlachtenlärm neben Chorfugen, es gibt Harfenklang und Streichersamt, alles sehr lyrisch, schwer und süßlich parfümiert. Ein Werk also, in das man sich hineinhören muss. Vielleicht fällt dies den Briten leichter, weil es auf der Insel eine große Oratorien-Tradition gibt und man dort mit den merkwürdigen Ausformungen des Genres im 19. Jahrhundert durchaus noch vertraut ist. Zum anderen werden dort die meisten Hörer wohl nicht durch deutsche Textzeilen wie diese irritiert: „Jetzt sank des Abends gold’ner Schein / Auf Syriens Rosenland herein, / Wie Glorienschimmer hing die Sonn’ / Über dem heil’gen Libanon“.

Simon Rattle, dem Schumanns Opus ein Herzensanliegen ist, führt alle Beteiligten mit souveräner Hand durch den heterogenen Neunzigminüter, atmet organisch mit Chor und Orchester, schafft einen warmen, dichten Klang mit vielen feinen Abstufungen zwischen Piano und Pianissimo. Mark Padmore gibt zartfühlend den Erzähler, Kate Royal, Bernarda Fink und Andrew Staples, die bereits bei Rattles „Das Paradies und die Peri“-Aufführungen mit den Berliner Philharmonikern 2009 dabei waren, singen solide.

Eine Entdeckung ist der mit samtiger Geschmeidigkeit gestaltende Bassist Florian Boesch. Leider stößt Sally Matthews in der anspruchsvollen Titelrolle schnell an ihre stimmlichen Grenzen, wirkt angestrengt in der Emphase, ja fast ältlich – was für eine Elfe wenig vorteilhaft ist.

Die neue Konzerthalle soll nicht vor 2023 fertig sein

Die Musiker folgen ihrem künftigen Chef mit größter Hingabe – und doch bleibt kein außergewöhnlicher, in irgendeine Richtung besonders faszinierender orchestraler Klangeindruck im Ohr. In der Detailarbeit also wird Simon Rattles Hauptaufgabe liegen, in der ästhetischen Verfeinerung und stilistischen Horizonterweiterung, wenn er mit dem London Symphony Orchestra in die Liga der Top-Ensembles vorstoßen will.

Das London-Projekt des Maestro, der am 19. Januar 61 Jahre alt wird, ist aber ohnehin langfristig angelegt: Selbst nach den optimistischen Kalkulationen der jetzigen Machbarkeitsstudie wird die neue Konzerthalle in der Hauptstadt Großbritanniens nicht vor 2023 eröffnen können.

Die Schumann-Doppel-CD ist bei LSO live erschienen.

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