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Wer steht demnächst am Pult? Das Amt des Chefdirigenten und künstlerischen Leiters der Berliner Philharmoniker ist das begehrteste in der Welt der Klassik.

© Sebastian Haenel/Berliner Philharmoniker

Simon Rattles Nachfolge: Die Königsmacher

Am 11. Mai ist es so weit: Die Berliner Philharmoniker wählen den Nachfolger von Simon Rattle. Die Prozedur ist so einmalig wie das Konklave im Vatikan. Der Neue tritt sein Amt im Sommer 2018 an.

„Der Begriff ,Interimslösung‘ kommt im Wortschatz der Berliner Philharmoniker nicht vor.“ So lautete die Reaktion von Kontrabassist und Orchestervorstand Peter Riegelbauer auf den Tagesspiegel-Artikel, in dem die Frage gestellt wurde, ob es nicht besser wäre, als Nachfolger von Simon Rattle zunächst einen alten Maestro zu wählen, da sich unter den jungen Spitzenkräften derzeit keine Persönlichkeit findet, die sich für den Posten aufdrängt.

Wen immer die 124 aktiven Mitglieder der Philharmoniker am 11. Mai in geheimer Wahl küren – ob nun Daniel Barenboim, den ebenfalls 75-jährigen Mariss Jansons oder einen der gefeierten Youngsters, Gustavo Dudamel oder Andris Nelsons –, der ist dann automatisch der beste Dirigent der Welt, wie Riegelbauer klarstellt. Weil die Berliner Philharmoniker gar keinen anderen als ihren Chef akzeptieren würden.

Wobei die 1882 gegründete Elitetruppe streng genommen gar keinen Chefdirigenten hat. Sondern einen künstlerischen Leiter. Das klingt zwar weniger nach Führungsposition, schließt aber tatsächlich eine größere Verantwortung mit ein, erläutert der Bratscher Ulrich Knörzer als Riegelbauers Vorstandskollege am Montag beim Informationsgespräch zum Wahl-Procedere. Ein künstlerischer Leiter kümmert sich nicht nur um seine eigenen Programme, sondern muss stets auch das große Ganze im Augen behalten.

Der Klassikbetrieb hat einen langen Vorlauf: höchste Zeit, jetzt Simon Rattles Nachfolger zu wählen

Vor allem Simon Rattle habe sich da „enorm viel eingebracht“, gerade in der intendantenlosen Zeit nach dem vorzeitigen Weggang von Franz Xaver Ohnesorg 2002. Seit die Philharmoniker als Stiftung organisiert sind, wird zu viert entschieden: Im Stiftungsrat, der sich alle vier bis acht Wochen zu Planungsrunden trifft, entscheidet der künstlerische Leiter gemeinsam mit dem Intendanten und zwei vom Orchester entsandten Musikern.

Im Sommer 2018 wird Simon Rattle den begehrtesten Job der Klassikszene zur Verfügung stellen. Im Januar 2013 hatte er dies angekündigt: „Ich werde dann kurz vor meinem 64. Geburtstag stehen. Als ein Liverpudlian kann man diesen besonderen Geburtstag nicht ohne die Frage der Beatles: ,Will you still need me, when I’m 64?‘ begehen. Ich bin mir sicher, dass es dann an der Zeit ist, dass jemand anderes die große und großartige Herausforderung übernehmen sollte, die Berliner Philharmoniker heißt.“ Dass die Philharmoniker bereits am 11. Mai wählen, hat mit den langen Vorläufen im Klassikbetrieb zu tun: Begehrte Interpreten werden bis zu vier Jahre vorab gebucht. Auch wenn der Brite den Berlinern noch bis 2018 erhalten bleibt, ist es höchste Zeit für die Wahl.

Und die nehmen die Philharmoniker autonom vor. Die Macht der Musiker ist weltweit einmalig: Kein anderes Orchester entscheidet alleine über seinen Chef. Wer immer es wird, der Berliner Senat, sprich: der Arbeitgeber, kann kein Veto einlegen. Das hängt mit der Gründungsgeschichte zusammen: Vor 133 Jahren rebellierten die Mitglieder der Bilseschen Kapelle gegen ihre Arbeitsbedingungen, warfen den Chef raus und formierten sich als basisdemokratisch organisiertes Ensemble neu. Seitdem wird über alle zukunftsrelevanten Fragen in der Vollversammlung entschieden.

Alle 124 aktiven Philharmoniker sind zur Teilnahme an der Wahl verpflichtet

So wird es auch am 11. Mai sein. Die Wahlberechtigten – alle Spieler, die ihre Probezeit bereits bestanden haben – sind zur Teilnahme verpflichtet, Rattle muss ebenso draußen bleiben wie der aktuelle Intendant Martin Hoffmann. Nach einer ausgetüftelten Wahlordnung organisiert ein vierköpfiges Gremium die Entscheidungsfindung. Zunächst wird eine Shortlist der aussichtsreichsten Kandidaten verkündet und diskutiert. Dann erfolgt der Wahlgang, altmodisch mit Stimmzetteln in einer Urne. Wie bei der Papstwahl bleibt man dann so lange zusammen, bis ein Name feststeht. „Wir haben den Termin mit dem Zusatz open end anberaumt“, sagt Riegelbauer.

Neuer künstlerischer Leiter wird, wer eine „deutliche Mehrheit“ der Stimmen auf sich vereinen kann. Deutliche Mehrheit? Konkreter wollen die Orchestervorstände am Montag nicht werden, und Namen nennen sie schon gar nicht. Diskretion ist ihnen in dieser heiklen Angelegenheit äußerst wichtig: „Damit keine Freunde beschädigt werden.“ Schließlich handelt es sich bei allen, die es auf die Shortlist schaffen, um „unsere liebsten Partner“, die man auch im Falle einer Nichtwahl weiterhin gerne als Gastdirigenten empfangen möchte. „Geheimhaltung gehört zur philharmonischen Ehre“, präzisiert Peter Riegelbauer. „Wer sie bricht, wird von den Kollegen geächtet.“

Bei keinem Kandidaten wird im Vorfeld angefragt

Wer steht demnächst am Pult? Das Amt des Chefdirigenten und künstlerischen Leiters der Berliner Philharmoniker ist das begehrteste in der Welt der Klassik.
Wer steht demnächst am Pult? Das Amt des Chefdirigenten und künstlerischen Leiters der Berliner Philharmoniker ist das begehrteste in der Welt der Klassik.

© Sebastian Haenel/Berliner Philharmoniker

Bei keinem Kandidaten wird übrigens im Vorfeld angefragt, ob er den Job auch machen würde. 1989, als der Nachfolger Herbert von Karajans gefunden werden sollte, setzten sich die Musiker mächtig in die Nesseln, weil sie vor der Wahl herumtelefoniert hatten. Jeder Gefragte rechnete anschließend fest damit, dass er das Rennen auch tatsächlich macht. Als dann Claudio Abbados Name verkündet wurde, gab es verletzte Eitelkeiten: Gleich mehrere Maestri brachen den Kontakt zum Orchester ab, für viele Jahre. Nur Daniel Barenboim nahm es den Musikern nicht krumm. Auch im Juni 1999 nicht, als er zum zweiten Mal das Nachsehen hatte, diesmal hinter Rattle.

Zu einer Überraschung wie im Falle Abbados könnte es auch diesmal kommen: Einen eindeutigen Favoriten gibt es nicht. Der bekennende Konservative Christian Thielemann hat viele Fans in der Streichergruppe, jüngere Musiker werden gewiss eher für einen Künstler votieren, der sich für die Entwicklungsperspektiven des Prinzips Livekultur in einer von digitalen Medien dominierten Gesellschaft interessiert. Mariss Jansons wird zwar von allen Stimmgruppen geliebt, aber der Gesundheitszustand des Letten ist labil. Gleichzeitig tritt er als letzter Gastdirigent vor dem Wahlgang auf: Am 9. und 10. Mai wird er in der Philharmonie Werke von Béla Bartók, Dmitri Schostakowitsch und Maurice Ravel dirigieren.

Gesucht wird übrigens Chef Nummer sieben. Seit 1882 haben nur ein halbes Dutzend Maestri das Orchester in seiner Entwicklung begleitet: Hans von Bülow, Arthur Nikisch, Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan, Claudio Abbado und Simon Rattle. Als Furtwängler die Nachfolge Nikischs antrat, erschien die Meldung im „Berliner Tagblatt“ unter der Rubrik „Verschiedene Nachrichten“. Seitdem haben Taktstock-Künstler immens an Bedeutung gewonnen. Vor allem Herbert von Karajan schien in der öffentlichen Wahrnehmung wie ein absolutistischer Monarch über dem Orchester zu schweben.

Danach, so mutmaßte der langjährige Intendant Wolfgang Stresemann, könne es keine Steigerung mehr geben. „Es erscheint zumindest zweifelhaft, ob der Dirigent auch weiterhin auf Jahrzehnte hinaus der vergötterte Star, der Mittelpunkt des Musiklebens bleiben wird“, schriebt er in seinen 1991 erschienenen „Erinnerungen an Herbert von Karajan“. „Es wäre nicht verwunderlich, wenn unsere Enkel und Enkelinnen darüber erstaunt wären, dass der ,Held‘ jener Zeiten der Dirigent gewesen ist, wie es uns sonderbar anmutet, dass im 18. Jahrhundert Kastraten die gefeierten, von Königinnen und Königen umworbenen Künstler waren.“

Da irrte Stresemann. Der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker wird auch 2018 ein Medienstar sein, interessant nicht nur für die Fach-, sondern auch für die Boulevardpresse. Als Gesicht des Orchesters, als politischer Netzwerker und Repräsentant der Stiftung. Ein Maestro allerdings – und dessen sind sich die stolzen Berliner Musiker sehr wohl bewusst –, den erst der Wille des Orchester zu dem gemacht hat, was er ist.

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