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Kultur: Singen und Sagen im Berliner Kammermusiksaal

Der Sänger identifiziert sich voll mit der Rolle des Sängers. Das heißt, dass er beide Bedeutungen des Wortes "Sänger" umfasst, dass also der berufsmäßig Singende, der Gesangsunterricht genommen und seine Laufbahn programmiert hat, sich in die Seele dessen versetzt, der seine Lyrik singend verfertigt.

Der Sänger identifiziert sich voll mit der Rolle des Sängers. Das heißt, dass er beide Bedeutungen des Wortes "Sänger" umfasst, dass also der berufsmäßig Singende, der Gesangsunterricht genommen und seine Laufbahn programmiert hat, sich in die Seele dessen versetzt, der seine Lyrik singend verfertigt. Die Rhapsoden, Homer, Goethes Harfner - zitiert von dem Schubert-Forscher Thrasybulos Georgiades - sind "Sänger" in diesem zweiten Sinn. Der Dichter singt. Es ist die Einheit, die Martin Luther kennt, wenn er im Weihnachtslied ankündigen lässt: "Davon ich singen und sagen will."

Der Ausführende, der das Podium betritt, um die "Winterreise" vorzutragen, scheint mit ihrem Schöpfer zu verschmelzen, mit ihren beiden Schöpfern Wilhelm Müller und Franz Schubert. In diesem anspruchsvollsten Bezug hat Dietrich Fischer-Dieskau, dessen Lebensthema die "Winterreise" war und ist, seinen Nachfolger in Thomas Quasthoff gefunden. Das schwermütige Sagen des Zyklus "schauerlicher Lieder" macht dieser Sänger neu, weil auch seine Interpretation eine Ganzheit darstellt: die des Menschen, der singend spricht.

In der ersten Bedeutung des Wortes "Sänger" befindet sich Thomas Quasthoff, der vor kurzem den 40. Geburtstag gefeiert hat, auf einem Höhepunkt seiner Kunst. Ein Bariton mit klingender, voller Basssubstanz und flexibler Höhenqualität. Die Stimme kann, was sie will, und hat daher eine frühere Neigung zum Monochromen abgelegt. Erstaunlich, welche Kraft sie entfaltet, als wolle sie "des ganzen Winters Eis" zersprengen. Kontrolle gebietet über die stärksten Espressivo-Ausbrüche des Singens. In Justus Zeyen hat Quasthoff einen Klavierpartner, der sich der Vokalstimme unterordnet - das heißt weniger Eigenanspruch anmeldet als etwa Alfred Brendel, einer der späten großen Begleiter Fischer-Dieskaus -, der aber, Wortnuancen wie "Dunkel" und "Ruhe" im "Lindenbaum" eingeschlossen, mit dem Sänger fühlt. Dessen Textverständnis spiegelt das des Dichters - bis in die Zeichensetzung: vor dem "gute Nacht" des ersten Liedes meint man in der feinen Zäsur den Doppelpunkt zu hören.

Quasthoff erzählt die Lieder, indem er mit ihnen atmet, und was in den Variationen seiner Atemführung nachklingt, sind besonders die Schlüsse in ihrer Bedeutsamkeit: "Du fändest Ruhe dort", "jedes Leiden auch sein Grab", "meiner Hoffnung Grab", "unter den Schläfern säumen", "noch keiner ging zurück". Die Motive der Liebesenttäuschung, des Wahns, des Eises, des Wandernmüssens, der Einsamkeit, des Todes hat Thomas Quasthoff in einer Weise verinnerlicht, dass sie Selbstverständlichkeit annehmen: es darf wieder von Tränen gesprochen werden, ohne dass das Verdikt von Weichlichkeit aufkäme. Im Tal der Depression wirkt der weinende Mann nicht schwach. Romantik wird Gegenwart im Jahr 2000.

Ganz unpathetisch in seiner Konzentration erklingt das "sehr langsame" Lied der "Winterreise", "Das Wirtshaus". Der Pianist begleitet es mit einem Kondukt von poetischer Sachlichkeit. Im ausverkauften Kammermusiksaal der Philharmonie werden Thomas Quasthoff und Justus Zeyen mit Ovationen gefeiert.

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