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Kultur: Sinnlose Ansprache

Ich verließ abends die Senatssitzung vorzeitig, um im SFB an einer kurzfristig angesetzten Live-Sendung teilzunehmen. Meine Sicherheitsbeamten hatte ich gebeten, direkt mit dem Polizeiposten an dem Übergang zu telefonieren, um Informationen aus erster Hand zu erhalten.

Ich verließ abends die Senatssitzung vorzeitig, um im SFB an einer kurzfristig angesetzten Live-Sendung teilzunehmen. Meine Sicherheitsbeamten hatte ich gebeten, direkt mit dem Polizeiposten an dem Übergang zu telefonieren, um Informationen aus erster Hand zu erhalten. Nach und nach reichten mir die Beamten kleine Notizzettel. Kurz nach 23 Uhr der Zettel: „Bornholmer Straße nach Erkenntnissen des Lagedienstes zurzeit ohne Grenzposten. Ausreise von DDR-Bürgern geht bereits in die Tausende. Man kann unkontrolliert von Ost nach West und umgekehrt.“ Ich zeigte ihn unter dem Tisch der Schauspielerin Steffi Spiera und Finanzsenator Norbert Meisner und flüsterte ihnen zu: „Wenn ich das hier jetzt laut vorlese, ist in Berlin die Hölle los.“ Wir verständigten uns. „Warten wir ab, bis die SFB-Reporter im Westen die ersten DDRler vor der Kamera haben.“ Kurz nach 23 Uhr wurde SFB-Journalist Robin Lautenbach von der Bornholmer Straße direkt zugeschaltet. Er sprach mit einem Ostberliner Paar. Jetzt war es so weit. Danach sagte ich: „Um es klar zu sagen: Überall sind die Übergänge offen, es wird nicht mehr kontrolliert, man kann ungehindert durch die Mauer. Ich bitte um Verständnis, aber ich muss jetzt arbeiten.“ Ich stand auf und verließ die Live-Sendung. Ich fuhr zum Übergang Invalidenstraße und kurz nach Öffnung war der Übergang ein Chaos von jubelnden Menschen und in der Menge eingekeilten Autos. Jemand brachte mir ein Megaphon und ich rief: „Berlinerinnen und Berliner, wir alle freuen uns über die Öffnung der Grenze... Aber ich bitte Sie, bei aller Freude, machen Sie den Kontrollpunkt frei, damit alle ungehindert über die Grenze können.“ Das war wohl die sinnloseste Ansprache dieser Nacht. Die, die sie akustisch verstanden, jubelten noch lauter und prosteten mir zu und die, die weiter weg waren, verstanden nichts und jubelten auch.

WALTER MOMPER (64)

Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses

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