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© laif

Siri Hustvedt: ''Ich erkunde Depressionen''

Siri Hustvedt sprach mit dem Tagesspiegel über die Macht der Geheimnisse und ihren neuen Roman.

Frau Hustvedt, in Ihrem neuen Roman „Die Leiden eines Amerikaners“ zieht sich ein sprachlicher Tick des Erzählers wie ein roter Faden durch das Buch: Er sagt immer wieder „Ich bin so einsam“. Wann waren Sie zuletzt einsam?

Es gibt einen Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit. Beim Schreiben bin ich allein. Jedenfalls faktisch. In meinem Kopf sind alle meine Romanfiguren, das ist wie ein Zustand innerer Pluralität. Einsam aber habe ich mich das letzte Mal gefühlt, als mein Mann Paul in Portugal an einem Film gearbeitet hat. Ich war zwar die ersten Wochen dabei, entschloss mich dann aber, das Buch, an dem ich gerade schrieb, daheim zu beenden. Ich flog zurück nach New York und war über einen Monat allein in unserem großen Haus. Unsere Tochter Sophie ist längst ausgezogen.

Glauben Sie, dass Einsamkeit auch positiv sein kann?

Ganz bestimmt. Ich glaube, dass beispielsweise Kunst aus einer Einsamkeit heraus entsteht. Sie ist ein Streben nach etwas anderem, auch nach dem Leser oder der Person, die sich das Bild ansieht.

Warum ist Ihr Erzähler Erik Davidsen einsam?

Erik ist Psychiater und Psychoanalytiker. Untertags hat er seine Patienten, aber wenn er abends nach Hause kommt, wartet dort niemand auf ihn. Er ist geschieden und sein Vater vor einem Jahr gestorben. Es ist das typische erste Jahr der Trauer. Auch mein Vater ist im Jahr 2003 gestorben. Ich habe Erik aus der Sicht meines imaginären Bruders geschrieben. Ich habe ja nur Schwestern.

Ihr Roman ist also an Ihre Familiengeschichte angelehnt?

Es gibt große Parallelen zu meinem Vater. Seine Großeltern sind in den späten 1860er Jahren in die USA eingewandert. Mein Vater wuchs in einer kleinen, ländlichen Gemeinschaft in Minnesota auf, in der jeder Norwegisch sprach. Bis zu dem Tag, an dem er starb, hatte er im Englischen einen norwegischen Akzent. Diese Gemeinschaft ist Teil des Romans. Mein Vater hat Memoiren hinterlassen. Einen Auszug daraus habe ich in mein Buch übernommen. Er spricht darin über seine Kindheit in dieser Gemeinschaft, über die wirtschaftliche Depression. Er war auch Soldat im Zweiten Weltkrieg. So zieht sich sein Leben durch den Roman.

Eriks Vater hat Geheimnisse. Andere Ihrer Romanfiguren auch. Tolerieren Sie persönlich Geheimnisse?

Geheimnisse gehören zum Leben. Es ist sehr interessant, dass die meisten Familien welche haben. Aber das Problem an Geheimnissen ist, dass sie mit der Zeit Wurzeln schlagen und wachsen. Da der Erzähler des Buchs Psychotherapeut ist und Medikamente verschreibt, ist er natürlich in viele Geheimnisse eingeweiht. Psychotherapie und Psychoanalyse haben viel mit Geständnissen zu tun.

Interessieren Sie sich für Psychotherapie?

Ich lese schon seit meiner Jugend Bücher über Psychoanalyse. Seit etwa 20 Jahren beschäftige ich mich mit Neurologie. Kennen Sie den Russen Alexander Romanovich Luria? Er ist einer meiner Lieblingsneurologen. In den vergangenen drei Jahren habe ich mich auch in die Psychiatrie, Pharmakologie und Gehirnforschung eingelesen. Ich bin Mitglied der Gruppe „Hope for Depression“, die sich für die Erforschung von Depressionen einsetzt. Es gibt Tests zu kaufen, mit denen man für die Zulassung als Psychiater durch das „American Board of Psychiatry“ üben kann. Die habe ich mir besorgt, um zu sehen, ob ich sie bestehen würde. Und ich hätte sie bestanden. Ich engagiere mich auch an der Payne Whitney Nervenklinik in New York.

Was machen Sie da?

Ich gebe Schreibkurse für Klinikpatienten. Es ist eine tiefe Erfahrung, so nah mit Menschen zusammenzuarbeiten, die an verheerenden Krankheiten leiden, die manisch-depressiv sind, schizophren oder schwer depressiv. Es sind wunderbare Leute, viele von ihnen sind sehr kreativ und können toll schreiben. Natürlich bekommt man auch herzzerreißende Geschichten zu hören. Einige leiden an Ereignissen in ihrem Leben, die sie nicht beeinflussen konnten.

Haben Sie diese Geschichten in Ihrem Buch verwendet?

Ich habe manchmal kleine Teile davon genommen und sie mit anderen Dingen vermischt. Aber ich habe nie eine Person komplett transferiert.

Ihr neuer Roman erscheint diesmal zuerst in Deutschland, dann in den USA. Wie erklären Sie es sich, dass Sie und Ihr Mann Paul Auster in Europa populärer sind als in Ihrer Heimat?

Ich glaube, das hat unter anderem mit einem Antiintellektualismus in den USA zu tun. Es ist eine Ironie, dass ausgerechnet ein Land, das von Intellektuellen gegründet wurde, an so einem Punkt angekommen ist. Natürlich haben wir auch viele Intellektuelle. Aber in Europa, wo Professoren und Gelehrte auch mal im Radio zu hören sind, sind Universitäts- und Massenkultur viel stärker miteinander verbunden. In den Vereinigten Staaten leben all die Denker und brillanten Menschen isoliert in ihrer Universitätswelt.

Das Gespräch führte Tanja Schwarzenbach.

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