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Die Reporterin und Buchautorin Åsne Seierstad, 48

© : Kagge/Sturlason/Kein & Aber

Åsne Seierstad auf der Leipziger Buchmesse: Im Kopf des Mörders von Utøya

Die norwegische Journalistin und Autorin Åsne Seierstad erhält den Europäischen Verständigungspreis der Leipziger Buchmesse für ihr Buch über Anders Breivik.

Anders Behring Breivik wollte sich auf kein Gespräch einlassen. In einem der Briefe, die er mit der norwegischen Journalistin Åsne Seierstad wechselte, kündigte er zwar seine Bereitschaft dazu an und schrieb, sie könne sich durch ein Interview mit ihm „Ihre Hände in Unschuld“ waschen, „falls jemand behauptet, Sie seien eine nützliche Idiotin für mich gewesen oder so.“

Doch Breivik änderte seine Meinung, und Åsne Seierstad schrieb ohne ein Interview ihr Buch über ihn und seine Opfer und den schwarzen Freitag im Juli des Jahres 2011, an dem Breivik 77 überwiegend sehr junge Menschen in Oslo und auf der kleinen Insel Utøya ermordete.

„Einer von uns“ heißt das Buch, es wurde 2013 in Norwegen veröffentlicht und drei Jahre später auch in vielen anderen Ländern. (Aus dem Norwegischen und Englischen von Frank Zuber und Nora Pröfrock, Kein und Aber Verlag, Zürich 2016, 544 S., 26 €). Åsne Seierstad erhält nun am heutigen Mittwoch explizit dafür bei der Eröffnung der Leipziger Buchmesse den diesjährigen Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Die Jury bezeichnete „Einer von uns“ als „dokumentarischen Roman“, der „allgemein Anwendbares über die bedrohliche Zeit, in der wir leben“ enthalte. Und sie lobte Seierstad dafür, „uns mit dem ganzen katastrophalen Ausmaß des Geschehens zu konfrontieren, in dem sie uns die Tragödie des Einzelnen vor Augen führt.“

Der Prolog des Buches ist reißerisch

Tatsächlich beginnt Seierstad ihr Buch mit einer Szene vom Geschehen auf Utøya: mit den Jungen und Mädchen, die sich vor Breivik verstecken. Und mit Breivik, der auf der Suche nach immer wieder neuen Opfern auf der Insel herumstreift. Hin und her geht es perspektivisch: „Sie duckte sich und kroch weiter. Alle suchten nach Verstecken. Es war zu spät zum Davonlaufen.“, beschreibt Seierstad das Verhalten eines Mädchens. „Nach dem ersten Schuss war alles leichter.“, weiß sie über Breivik.

„Der erste Schuss hatte Überwindung gekostet. Es war fast unmöglich gewesen, aber nun schritt er entspannt voran, die Pistole in der Hand“. Und dann, noch eine Spur allwissender, vermutlich mit den Erkenntnissen aus gerichtsmedizinischen Akten: „Sekunden später wurde der Junge, der den Arm um sie gelegt hatte, getroffen. Der Schuss durchschlug seinen Hinterkopf, die Kugel splitterte beim Eindringen auf, traf das Kleinhirn und zerfetzte den Hirnstamm.“

Man kommt nicht umhin, diesen Prolog „reißerisch“ zu nennen. Seierstad schreibt actiongetrieben und macht keinen Hehl daraus, dass es ihr nicht nur um das Leid der Opfer und die Einfühlung in diese und den Täter geht, sondern auch um Spannung. Ihre Ouvertüre ist eine Anzahlung für das, was sie später auf knapp hundert Seiten im Buch schildert, von Breiviks Bombenanschlag in Oslos Regierungsviertel bis hin zu seiner Mordraserei auf Utøya, an deren Ende er sich den Polizisten mit den Worten stellt: „Nicht ihr seid meine Feinde. Ich betrachte euch als meine Brüder. Auf euch habe ich es nicht abgesehen.“

Breivik zeigte früh Verhaltensauffälligkeiten

Vorher jedoch erzählt Seierstad Breiviks Werdegang und unterbricht diesen Bericht immer wieder mit Szenen aus dem Leben einiger Opfer, unter anderem von Bano, einer jungen kurdischen Einwanderin, die mit ihren Eltern und zwei Geschwistern in den späten neunziger Jahren nach Norwegen einwandert.

Seierstad beginnt mit Breiviks Geburt als Sohn eines Diplomaten und einer Frau, deren „Leben voller Verluste war. Und Einsamkeit“. Der Vater verlässt die Familie früh, er ist inzwischen das vierte Mal verheiratet. Der kleine Anders wächst bei seiner Mutter und der älteren Schwester auf und zeigt früh Verhaltensaufälligkeiten. Das Jugendamt und jugendpsychiatrische Dienste werden eingeschaltet. „Anders fehlt es an Spontaneität, Bewegungsdrang, Fantasie und Empathie“, heißt es zum Beispiel. Doch mit zunehmendem Alter unterscheidet sich Breiviks Leben nicht so sehr von dem anderer Heranwachsender.

Er treibt sich im Sprayer- und Hip- Hop-Milieu herum, bricht nach der Schule Ausbildungen ab, gerät in die Kreise der fremdenfeindlichen Fortschrittspartei, verdient Geld mit der Herstellung gefälschter Diplome, durchaus viel Geld, „er wurde reich!“, beginnt im Netz Beiträge zum Islam zu schreiben – und zieht 2006 nach dem Ende seiner Diplomfälschungsfirma wieder bei seiner Mutter ein, wo er sich in den Weiten des Internets verliert, besonders in Spielen wie „World Of Warcraft“.

Es ist schwer, in dieser seltsam mäandernden Biografie eines sozialen Außenseiters die entscheidenden Bruchstellen zu entdecken, auch nicht, als Breivik beginnt, auf einem alten Bauernhof seine Bomben zu basteln. Seierstad vermittelt zwar eine große Nähe zu ihrem Helden, hält sich aber vielleicht genau deswegen dankenswerterweise mit Urteilen zurück.

Das Buch "Einer von uns" ist eine Zumutung

Dass Breivik „einer von uns“ ist, erschließt sich in dieser Erzählung schon, gerade im Wechsel mit den Porträts der jungen, linkspolitisch engagierten Norweger und Norwegerinnen, die das bessere, geordnetere, bürgerlichere Leben führen und unglücklicherweise auf dem Sommerlager der sozialdemokratischen Jugend ins Visier des Mörders geraten.

Breiviks Islamhass, sein Hass auf den „Kulturmarxismus“, seine Vorstellung, sich als Kommandant der „antikommunistischen Widerstandsbewegung“ zu fühlen, das Manifest, das er schreibt, all das wirkt irrlichternd, wird von Seierstad zurückhaltend, nüchtern oder auch gar nicht kommentiert. Umso irritierender ist, wenn sie dann die Ereignisse auf Utøya wie einen Thriller erzählt. Wenn sie glaubt, in die Köpfe der sterbenden Jugendlichen kriechen und ihre letzten Gedanken aufzeichnen, mit Splattermomenten arbeiten und zum Teil wie in Zeitlupe die Erschießungen schildern zu müssen.

„Einer von uns“ wird so zu einer Zumutung. Der man sich zwar nicht entziehen kann, das nicht, nein. Schauder versteht Seierstad auszulösen, die Tragödie des Einzelnen zu vermitteln, auch das. Nur wo steckt der Erkenntniswert? Wo ist das von der Jury konstatierte „allgemein Anwendbare“? Insofern ist es verwunderlich, dass die 1970 in Oslo geborene Journalistin und Kriegsreporterin ausdrücklich für dieses Buch den Verständigungspreis bekommt – hat Seierstad doch schon mit vielen anderen Büchern auf sich aufmerksam gemacht. Zum Beispiel mit ihren Kriegstagebüchern aus Bagdad („Tagebuch aus Bagdad. Alltag zwischen Angst und Hoffnung“) oder Grosny („Der Engel von Grosny. Tschetschenien und seine Kinder).

Oder Anfang der nuller Jahre mit „Der Buchhändler von Kabul“, einer Familiengeschichte, die Åsne Seierstad schrieb, nachdem sie mehrere Monate in einer afghanischen Familie gelebt hatte. Die Unterdrückung der Frauen in dieser Familie war ihr dabei ein Anliegen, der afghanischen Frauen überhaupt, wie sie wissen ließ, als eben jener Buchhändler sie verklagte und auch in Oslo medial gegen sie zu Felde zog.

Seierstads Bücher reflektieren die norwegische Gesellschaft

Ihr neuestes Buch, „Zwei Schwestern“, handelt von den norwegischen Teenagern Ayan und Leila, die aus einer somalischen Einwandererfamilie stammen und sich eines Tages auf den Weg nach Syrien und in den Irak machen, um sich dem IS anzuschließen. Auch in diesem Buch arbeitet Seierstad mit verschiedenen Perspektiven, zum Beispiel der des Vaters, der die Mädchen in Syrien sucht, oder der anderer Mädchen aus dem Umfeld von Ayan und Leila, die sich nicht dem IS anschließen. Sie zitiert aus dem E-Mail-Verkehr ihrer Figuren oder wertet deren Social-Media-Verläufe aus. Wobei wie im Fall Breivik die beiden Schwestern nicht mit der Reporterin kommuniziert haben. Und nicht zuletzt erzählt Seierstad von den Verhältnissen in Syrien, in türkisch-syrischen Grenzstädten, zeichnet sie die Geschichte des Landes bis hin zum Arabischen Frühling nach.

„Zwei Schwestern“ ist wie das Breivik- Buch überdies eines über die norwegische Gesellschaft, eine Gesellschaft, die durch Migration und Globalisierung sich nicht immer zum Guten verändert. So wie es Åsne Seierstad als Grund für die Hinwendung der Schwestern zum Islam und zum IS anführt: „Warum sollten sie sich damit zufrieden geben, Norweger zweiter Klasse zu sein, wenn sie stattdessen erstklassige Muslims sein konnten?“

Das IS-Schwestern-Buch ist aber auch das gleichermaßen umfassendere wie dezentere, weniger reißerische. Nach seiner Lektüre fühlt man sich bereichert. Nach der von „Einer von uns“ bleibt nur Ratlosigkeit, Unverständnis, Entsetzen – und ein Täter, der seine Briefe an Seierstad mit „narzisstischen und revolutionären Grüßen“ schloss. Und, so ist zu befürchten, sich mit „Einer von uns“ in seinem Narzissmus nur bestätigt fühlen dürfte.

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