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Kultur: So weit die Flügel tragen

Zeche oder Park, Moderne oder Klassik-Pop: In Europa boomen die Klavierfestivals

Von Jörg Königsdorf

Vermutlich sind René Martin und Franz Xaver Ohnesorg alle beide ein bisschen verrückt. So verrückt, wie man eben sein muss, wenn man die beiden größten Klavierfestivals der Welt leitet. Denn es ist nicht nur auf den ersten Blick eine vermessene Idee, ausgerechnet das Klavier zum Thema zweimonatiger Konzertspektakel zu machen und mitten im Sommer zigtausende von Menschen dazu zu bringen, sich immer wieder der asketischen Konzerterfahrung eines Klavierrecitals zu stellen: Sowohl bei Martins Festival im provenzalischen Örtchen La Roque d’Anthéron wie beim Klavierfestival Ruhr, für das Ohnesorg verantwortlich zeichnet, stehen Abend für Abend nur ein Steinway und ein Pianist als Hauptdarsteller auf der Bühne, bleibt trotz gelegentlicher Programmweiterungen das Schwarzbrot die Kunst des Klavierspiels das einzige Thema. Mit diesem minimalen Mitteleinsatz steht man gegenüber dem Glamour und der Klotzerei in Salzburg, Bayreuth und Aix-en-Provence eigentlich auf verlorenem Posten – doch war es vielleicht gerade diese heillose Unterlegenheit, die den einfallsreichsten Festival-Macher Frankreichs wie den erfolgreichsten Klassik-Manager Deutschlands gereizt hat.

Das kontinuierlich steigende Prestige und die jährlich wachsenden Auslastungszahlen beweisen, dass beide Festivals den Kampf gegen die Opern-Goliaths geschafft haben: Mit 80 000 (La Roque) bzw. 33 500 Besuchern in diesem Jahr gehören sie in die Spitzenliga der Klassik-Festivals – Zahlen, die umso staunenswerter sind, als der akustische Radius des Klaviers der Platzkapazität zwangsläufig eine bescheidenere Obergrenze setzt.

„Für mich bedeutet dieses Festival die einmalige Chance, ohne die Beschränkungen eines regulären Konzertsaal-Betriebs die Programme zu machen, die mir am Herzen liegen und meine Überzeugung vom Konzert als ganzheitlichem Erlebnis umzusetzen“, erzählt Ohnesorg, der das Klavierfestival Ruhr vor sieben Jahren noch als Chef der Kölner Philharmonie übernahm. „Denn hier im Ruhrgebiet habe ich für jede Art von Musik den optimalen Spielort – vom nostalgischen Jahrhundertwende-Saal bis zur Zechenhalle.“ Mit einer Masse von 65 Konzertprogrammen zwischen Mitte Juli und Mitte August habe er außerdem die Pflicht, etwas Besonderes zu machen. Mit dem Programmschwerpunkt „Amerikanische Musik“ hatte das Festival, das sich ohne einen einzigen Euro öffentlicher Gelder finanziert, den Sponsoren diesmal einen besonders schwer zu verdauenden Brocken vorgesetzt: Durchgängig Werke des 20. Jahrhunderts, Komponisten wie John Cage, Steve Reich und Morton Feldman, um die die klassische Event- und Repräsentativkultur normalerweise einen weiten Bogen macht – die aber gerade deshalb Ohnesorgs Anspruch des Außergewöhnlichen besonders gut einlösen. Seit seiner New Yorker Zeit als Chef der Carnegie Hall, erklärt er, schwärme er für diese Musik, und habe immer noch das Gefühl, diesen Komponisten gegenüber eine Programmschuld abtragen zu müssen.

Mit der immens aufwändigen Erstaufführung der Originalversion von George Antheils „Ballet Mécanique“ unter Dennis Russell Davies beim Abschlusskonzert in der Essener Zeche Zollverein dürfte freilich ein Gutteil dieser Schuld getilgt worden sein: Das gigantische Halbstundenwerk für 16 selbstspielende Pianolas, vier Klaviere, Percussion, Sirenen und Turbinen von 1927 ist weit mehr als ein bloßes Dada-Spektakel, sondern erweist sich als ein Schlüsselwerk der Moderne: Als konsequente Überhöhung der rhythmischen Allmacht von Strawinskys „Sacre“ im Geist des Maschinenzeitalters – als Weltuntergangsvision, in der die programmierten Pianolas mit ihrer aggressiven akkordischen Wucht alles Menschliche niederwalzen – eine Gänsehaut trächtige Faszination, die sich im Konzert in der an Fritz Langs „Metropolis“ erinnernden Zechen-Kulisse sogar optisch durch die offenen, notenbeißenden Hämmer-Reihen suggeriert wird.

Von solchem Wagemut ist Martins Festival von La Roque d’Anthéron freilich Welten entfernt. Wohl auch, weil in Frankreich etwas weniger Notwendigkeit besteht, dem scheinbar so monochromen Thema Klavier eine möglichst große Bandbreite schillernder Facetten abzugewinnen. Das Land mit dem weltweit höchsten Klavierbestand pro Kopf der Bevölkerung verfügt über eine üppig blühende Pianistenszene, bei der es zum guten Ton gehört, auf der Open-Air-Bühne im Park des alten Chateaus von Florans anzutreten. Sucht das Klavierfestival Ruhr das Besondere, bietet La Roque das Spektakel und inszeniert das Klavier nicht anders als ein Popkonzert.

Überwiegend den großen Klassikern gewidmete Ein-Komponisten-Nächte sind die Hauptereignisse an den Wochendenden, während derer sich bis zu 2300 Besucher pro Konzert auf den winzigen Schalenstühlchen der Tribüne die Bandscheiben ruinieren. „Was in La Roque zählt, ist das gesellschaftliche Ereignis“, erklärt Eva Coutaz, die Chefin der CD-Firma Harmonia Mundi und langjährige Festival-Kennerin. „Im Publikum sitzt hier das ganze 15. Arrondissement von Paris, das gerade seinen Provence-Urlaub macht.“ Dass die Musik selbst dabei meist auf verlorenem Posten steht, wird in Kauf genommen: Kaum ein Pianist schafft es, unter den Freiluftbedingungen noch die Eigenheiten seines Klavierklanges zu vermitteln. Das Wunder gelingt nur solchen genialen Einzelgängern wie dem jung Alexandre Tharaud mit seinem feingesponnenen Rameau-Spiel oder dem Hünen Roger Muraro, der in diesem Jahr Messiaens „Vingt Regards“ mit einer rauschhaften Leuchtkraft und lisztschen Ekstase auflädt, dass sogar die parkeigenen Mücken ein Einsehen haben und das Blutsaugen auf belanglosere Abende verschieben.

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