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Kultur: So weit die Füße fliegen

Von Lachenmann bis Lassus, von Beethoven bis Barry: Das Musikprogramm der neuen Berliner Festwochen entdeckt das 21. Jahrhundert

Von Christine Lemke-Matwey

Eigentlich ist die Zeit des Trash in der zeitgenössischen Kunst ja gründlich vorbei. So dachte man. Keine großmustrigen Wohnzimmertapeten und keine Sixpacks mehr, keine triefäugigen Typen, die in verschwitzten Unterhemden vor der Glotze hängen und uns weismachen wollen, dass so und nur so das wahre Leben aussieht. Eine neue Ernsthaftigkeit (oder Harmlosigkeit) wurde eingeläutet, Ästhetik war wieder was, das Schöne, das Ansehnliche durfte, so es sich traute, wieder etwas sein. Das Plakat der neuen Berliner Festwochen indes belehrt uns eines Besseren: Ein Mann fährt Kettenkarussell, und wir sehen nur seine Füße. Als blickte er an sich selbst, als blickten wir an ihm herunter. Beige Wohlfühlschuhe, dunkle Baumwollsocken, das perfekte Durchschnittsoutfit also – und die Welt darunter, die Welt dahinter gerinnt zu einem schlierigen Schwindelgefühl in Graugrün und zartem Violett.

Das Ich ist der Radius der Welt, sagt diese Metapher. Das Ich hat den Boden unter den Füßen verloren. Das Ich kommt abhanden. Ganz schön ehrlich. Aber: ein gutes Motto auch für die Kunst, für die Musik?

Bei den Berliner Festwochen ist das 21. Jahrhundert angebrochen. Das Traditionsfestival präsentiert sich in komplett neuen, überraschend unspektakulären Gewändern. Kein Kult mit den üblichen big s mehr, keine vagabundierenden Superstars – doch, gewiss, aber eben andere, fremdere. Wer kennt schon Dr. L. Subramaniam oder Lyle Lovett (der leider bereits abgesagt hat), wer würde behaupten, sich mit Stefan Wolpe wirklich auszukennen oder mit Olivier Messiaen? Die Festwochen 2002 wollen nicht bewahren, was immer bewahrt wurde, und sie wollen nicht behaupten, was sein wird – sie wollen, als hätten sie nichts Heikleres gefunden, zeigen, was ist. Nach Ernst Reuters legendärer Nachkriegsemphase von 1951 („Ziemt es denn, so könnte man fragen, Feste zu feiern, wenn die Not der Zeit so unmittelbar auf einer Gemeinschaft und dem einzelnen lastet?“), nach Jahrzehnten der künstlerischen Rekonvaleszenz und Konsolidierung in der Hauptstadt des Kalten Krieges, nach mutigen Aufbrüchen in die Moderne und einer starken Besinnung aufs klassische Erbe, nach Ulrich Eckhardts Ära, die von einem nie versiegenden, immer neue programmatische Gipfelstürme verheißenden Optimismus beflügelt wurde und sich am Ende, nach fast dreißig Jahren, in eben diesem Habitus erschöpfte, nun also: das Heute. Das Wirkliche. Eine Schule der frei schweifenden Wahrnehmung. Die Vorherrschaft des Gleichzeitigen. Das Zerfließen der Grenzen, zwischen den Gattungen, den Räumen, zwischen Konzert, Oper und bildender Kunst.

Joachim Sartorius nennt diesen Ansatz eine „Liebeserklärung an eine Welt, wie wir sie in diesem Moment erleben, ohne sie gleich erklären zu wollen“. Oder auch: ein „Gefühl von Vitalität und Vielfalt“, ein „Risiko“. Mehr als schöne Worte aus klugem, berufenem Munde? Wer dem Ganzen böse will, könnte sagen, bei den Berliner Festwochen wird jetzt nicht nur musiziert, sondern auch getanzt und Theater gespielt. Eine Verwässerung des Profils? Eine vergebene Chance? Nicht umsonst, unken die Bösen, wird in Bayreuth auf die Unantastbarkeit des Wagner-Kanons gepocht, nicht von ungefähr gilt Luzern als das renommierteste Konzert-Festival Europas, und überhaupt, was wäre Innsbruck ohne seine Alte Musik, was Pesaro ohne Rossini?

Nun, eine derart starke Eigenidentität haben die Festwochen nie besessen. Im Gegenteil: Was vor einem halben Jahrhundert als Musikschaufenster ins Leben gerufen wurde, als Nabelschnur zwischen dem eingeschlossenen West-Berlin und dem Rest der (westlichen) Welt, das musste durch alle eisernen Vorhänge hindurch eine kulturelle Grundversorgung leisten und hat heute, 13 Jahre nach dem Mauerfall, nicht zwangsläufig eine andere Funktion. Berlin, diese Stadt, die es so fabelhaft versteht, mit sich selbst beschäftigt und zufrieden zu sein, kann es nach wie vor gut vertragen, zu erfahren, was sich andernorts tut. Erst der Mut zum kritischen Vergleich, erst die Durchmischung des vermeintlich Eigenen mit dem vermeintlichen Fremden, zeugte von einem halbwegs gesunden hauptstädtischen Selbstbewusstsein.

Nach 51 Jahren schicken sich die Festwochen also an, das Vertraute zu verlassen. Je stabiler die Zeiten (jedenfalls im Vergleich zu 1951 oder 1989!), desto kühner, verwegener, ja offener die Kunst? Seit er sich erinnern könne, sagt der junge Redaktionskollege und wiegt den Kopf, sei der Pianist Maurizio Pollini Gast der Festwochen gewesen. Dass er in diesem Jahr fehlt, dürfte zumindest das Berliner Publikum verstören, ja schrecken. Das also ist das „Risiko“: Erwartungen zu enttäuschen, mit Gewohnheiten zu brechen, Gemeinden zu verlieren. Eigentlich ein ganz normaler Vorgang, wenn die künstlerische Leitung eines Festivals wechselt. Das dürfte in Berlin nicht anders sein als in Salzburg (wo das Programm von Peter Ruzickas erster Saison dem Publikum weitaus besser gefiel als es die Kritiken vermuten lassen), in Luzern (wo Michael Haefliger zwischen kulinarischer Massenware und progressiven Preziosen einen erfolgreichen Eiertanz absolviert) oder im fernen Sydney (wo Peter Sellars trotz oder wegen seiner arrivierten Ideen ziemlich auf die Nase fiel).

Man habe die Wahl gehabt zwischen einem repräsentativen Luxusfestival und einem Festival der Positionen, sagt Festwochen-Musikchef André Hebbelinck in der ihm eigenen, bedächtig konzisen Weise – und habe sich für Letzteres entschieden: „Es geht um das kollektive Gedächtnis: Was ist interessant an den vergangenen Jahrhunderten, was nehmen wir mit in die nächste Generation? Wo begegnen sich Tradition und Kreativität? Auf der Kreuzung dieser beiden Straßen wollen wir stehen und sehen, was los ist. Was passiert, wenn der Komponist Gerald Barry sich mit Händel ins Benehmen setzt, was geschieht in einer ,Zeitmaschine’, in der ausgerechnet Johannes Brahms und Kaija Saariaho rotieren?“

Und noch mehr verbirgt sich hinter Sartorius’ „Gefühl von Vitalität und Vielfalt“: Musiktheater von Helmut Lachenmann, Salvatore Sciarrino und Heiner Goebbels (jeweils in renommierten Koproduktionen), Porträtkonzerte mit Mark-Anthony Turnage, Olga Neuwirth, Johannes Maria Staud, Louis Andriessen und Elliott Carter sowie Werkschauen von Stefan Wolpe und Karlheinz Stockhausen. Eine Momentaufnahme der europäischen Avantgarde, wie sie, merkwürdig genug, repräsentativer kaum hätte ausfallen können. Also doch die Nummer sicher und bloß ein erster Berliner Versuchsballon?

Hebbelinck, gebürtiger Belgier und zuletzt Geschäftsführer des Frankfurter Ensemble Modern, bestreitet jede kalkulierte Vorsicht – und nimmt’s persönlich. Es mache keinen Sinn, erregt er sich, Stockhausen zu spielen ohne Messiaen, es mache keinen Sinn, Messiaen zu spielen ohne Lassus. Und monochrome Festivals, die auf das eine oder das andere setzten, machten schon überhaupt keinen Sinn: „Die Musikgeschichte ist keine Abfolge von Avantgarden. Die Querverbindungen sind das Interessante. Das ist unser Anliegen, darin liegt unsere Aktualität.“

Auf der vorletzten Seite des Festwochen-Journals begegnet dem Leser dann noch einmal Tacita Dean, die junge englische Künstlerin, die schon die beigen Wohlfühlschuhe ins Bild bannte. Diesmal mit einer sommerlichen Balkonszene: Großmutter im Liegestuhl, die Enkelin im rosa Blüschen. Geranienpracht ringsumher, Blumentöpfe mit sicheren Gummimanschetten. Die Enkelin lächelt verschmitzt, die Großmutter blickt ein wenig abwesend in die Ferne. Reg’ dich nicht auf, scheint ihr papierzarter Händedruck zu sagen, Beethovens Neunte gibt es trotz alledem. Mit Kent Nagano und dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin. Und dass sie vorher Ligetis „Lux aeterna“ und Galina Ustvolskajas vierte Symphonie spielen, als klingende Kommentare, als ein Fragen mitten hinein in eine immer fernere, enigmatischere Tradition – das sollten alle verkraften: die Auswärtigen, die Insider, die Ängstlichen und die Altvorderen. Und Beethoven natürlich. Und das große Berliner Ich.

Infos unter www.festwochen.de sowie unter Tel. 030/25 48 91 00.

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