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Kultur: Solo zum Hauptgang

Steins "Faust"-Projekt ist der Kern des EXPO-Kulturprogramms / Die Berliner Schaubühne hilftVON MORITZ MÜLLER-WIRTHDie Vorspeise kommt aus Nottingham.Performance, sinnliche Körper, ein rotes Telefon, Videoschirme.

Steins "Faust"-Projekt ist der Kern des EXPO-Kulturprogramms / Die Berliner Schaubühne hilftVON MORITZ MÜLLER-WIRTHDie Vorspeise kommt aus Nottingham.Performance, sinnliche Körper, ein rotes Telefon, Videoschirme.Vorher saltoschlagende Rapper, später feuerspeiende Hüte aus Marseille, ein biegsamer Männerkörper, zwischendurch hosenfrei: Antoni Rizzi, Forsythe-Tänzer aus Frankfurt.Schrille Klänge dann für Posaune, solo und für Ensemble, modern.Häppchen, nicht nur zum Dessert.Fernsehgerecht inszeniert und ausgeleuchtet: Die Präsentation des Kultur- und Ereignisprogrammes der EXPO 2000 - sensibel inszeniert in den herrlichen Hallen der Berliner Parochialkirche - zelebriert rund um den Hauptgang, den fetten Braten, vielfach schon auf dem Speiseplan, zwischenzeitlich fast verkommen, jetzt, gut abgehangen, offenbar reif zum Verzehr: Goethes "Faust", ungekürzt, falsch: Steins "Faust".Doch gemach: das Wort hat zunächst die Generalkommissarin.Rotes Leinensacko, Seidentuch, dunkler Rolli, das Publikum im festen Blick."Wichtig", heißt es gegen Ende, "wichtig ist uns das Live-Erlebnis." Das huldvolle Lächeln verschwindet abrupt, das nächste Dia springt auf die Leinwand.Weilt doch Birgit Breuel zur selben Zeit in Stuttgart, kurzfristig verhindert, erläutert der Moderator, der die Rede verliest, als Mitglied des Aufsichtsrats von Daimler-Benz in dieser Stunde, ausgerechnet, Zeuge eines historischen Moments der deutschen Industriegeschichte, Chrysler, die Fusion.Historisch.Regisseur Peter Stein nimmt das Wort nicht in den Mund.Geht es um sein Projekt, die Realisierung der ungekürzten Version von beiden Teilen des "Faust", ist die Rede von einer Zangengeburt, von einer Mutter, der Schaubühne, von Fehlgeburten, von gezielter Abtreibung auch.Verwunden hat es Stein offenbar immer noch nicht, daß Schaubühnen-Direktor Jürgen Schitthelm, der jetzt mit ihm auf dem Podium-Altar sitzt, diesen "Faust", vor Jahren, nicht in die heiligen Hallen ließ.Jetzt also die Niederkunft: 28 Millionen Mark, ein komplettes Theater, zwei Hallen, unabhängig voneinander zu bespielen.80 Menschen, 35 (vorwiegend junge) Schauspieler, Hannover, Berlin, Wien, 19-Stunden-Marathon, teilbar in zwei bis vier Portionen.Fasnachtsprozessionen werden angekündigt, Puppentheater, Besäufnisse und Freßgelage.Das vagabundierend Publikum darf mitmachen.Probenbeginn ist am 250.Geburtstag des Autors, am 28.August 1999, Premiere am 25.Juli 2000, letzte Vorstellungen im Juni 2001.Mit seinem Lebenstraum nehme er das Goethes Angebot vom kompletten "Faust" an, das bisher von allen ausgeschlagen worden sei, sagt Stein.Bei den bisherigen Versuchen der Kollegen habe es sich nicht um "Strichfassungen", sondern um "Verstümmelungen" gehandelt, doziert er und bemerkt zum Stellenplan: "Bruno Ganz hält sich bereit."Die öffentliche Hand jedenfalls zahlt, hat der Bundesinnenminister versprochen, die Sponsoren legen dieselbe Summe (sechs Millionen Mark) nochmal drauf.Das war die Bedingung, sagt Frau Seebacher-Brandt von der Kulturstiftung der Deutschen Bank, die die privaten Geldgeber vertritt.Schitthelm sagt nicht viel, nur soviel: es sei die Aufgabe subventionierter Häuser, sich an Experimenten zu beteiligen.14 Mitarbeiter wirken mit, mit insgesamt 2,7 Millionen Mark wird die Schaubühne die Produktion (Technik, Werkstätten) unterstützen.Die sonstigen Pläne des Stammhauses und seiner dann neuen Führungsriege sind nicht tangiert, beruhigt der Direktor, geschweige denn die Räumlichkeiten.Messehallen sollen dem Berliner "Faust" Quartier bieten.So hilft die Mutter gern.107 Millionen Mark wird das Kulturprogramm auf der EXPO (1.Juni bis 31.Oktober) insgesamt kosten, ein Viertel davon soll durch Sponsorengelder wieder hereingeholt werden, der Rest kommt aus dem Gesamtetat der Weltausstellung.28 Millionen kostet der "Faust", bleiben fast 80 Millionen.Von ihnen und ihrer Verwendung wurde auch geredet.Von dem Projekt "In-between-Architecture" redeten die Kuratoren Wilfried Dickhoff und Kaspar König.In diesem Zusammenhang fielen Worte wie das vom "Unmöglichkeitsbegehren der Kunst", wurden übergreifende Fragen erörtert, wie jene nach der Kunst der Zukunft und auch der Zukunft der Kunst.EXPO-Kulturprogramm-Macher Tom Stromberg mühte sich, darauf hinzuweisen, daß neben dem Etablierten auch das Experimentelle seinen gleichberechtigten Platz habe.So richtig aufmerksam hat dabei kaum einer noch zugehört, obwohl neben anderen noch Bowie, Brook und die Berliner Philharmoniker als Appetizer gereicht wurden.Es half nichts.Der Hauptgang war verzehrt, das Publikum gesättigt.Die einzige Mahnung war dabei fast untergegangen.Der "Faust" dokumentiere vor allem, so hatte Stein erklärt, "das Scheitern jeglicher menschlicher Tätigkeit".

MORITZ MÜLLER-WIRTH

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