zum Hauptinhalt
Gründerzeitcharme. Das Literarische Colloquium Berlin. Links im Vordergrund (unsichtbar): der Partyseelöwe.

© Britta Pedersen/p-a/dpa

Sommerfest des LCB: Seelöwe sucht Frau

Der Verlag Kiepenheuer & Witsch richtet das Sommerfest des LCB aus - und macht einen Besucher besonders glücklich. Ein Spätsommermärchen.

Von Gregor Dotzauer

Auf dem Grund des Wannsees, in neun Metern Tiefe, lebt kein finsteres Ungeheuer, sondern ein einsam gewordener Partyseelöwe. In den wärmeren Monaten klettert er mal hier, mal dort an Land, um bei Club- und Vereinsfeiern wenigstens an einem Rest sozialen Lebens teilzuhaben. Aber nichts ist ihm mehr ans melancholische Löwenherz gewachsen als das alljährliche Sommerfest des Literarischen Colloquiums.

Schon am frühen Nachmittag mischt er sich unter die Gäste und berauscht sich am Johlen aus dem Kinderzelt. Er selbst hat es nie zu einer Familie gebracht, nachdem ihn die einzige Gefährtin, die es jemals in seine Unterwasserbehausung verschlug, nach vier Wochen verließ und ihr weiteres Glück an Land suchte. In der Menschenwelt, hat er sich sagen lassen, bewerben sich schwierige Fälle bei Fernsehshows wie dem „Bachelor“ oder „Bauer sucht Frau“. Eine Weile glaubte er sogar, dass man ihn gerade wegen seiner exotischen Lebensweise mit Kusshand nehmen würde, musste sich dann jedoch eingestehen, dass seine eigene Unsichtbarkeit in den Augen anderer wohl das entscheidende Hindernis wäre.

Auf anderen Gebieten verschafft sie ihm enorme Vorteile. Bevor es auch nur ein Besucher merkt, nippt er beim einen am Weißwein und nimmt bei der anderen einen Schluck Aperol Sprizz. Und wenn jemand unvorsichtig genug ist, sein Bier kurz abzustellen, steht es nicht selten binnen Sekunden leer da. Mit Genugtuung sieht der Partyseelöwe zu, wie die nachfüllbedürftigen Schlangen vor den Getränkebuden durch seine Mundräubereien länger und länger werden.

Gefahrloser Bücherklau

In Schleichers Festbuchhandlung im Inneren der LCB-Villa hat er diesmal sogar ein Buch mitgehen lassen: „Der Spaß an der Sache“, einen silbern glänzenden 1000-Seiten-Klotz von einem gewissen David Foster Wallace. Der Übersetzer Ulrich Blumenbach hat ihn bei einer der Lesungen, die das allgemeine Stimmengeschwirr im Halbstundentakt durchbrechen, darauf so neugierig gemacht, dass er die Essays dieses ominösen Amerikaners, von dem er nie zuvor gehört hatte, zumindest durchblättern wollte.

Er betrachtet das gestohlene Buch vor allem als Souvenir. Denn Kiepenheuer & Witsch, der Kölner Verlag, in dem es erschienen ist, hat das Sommerfest ausgerichtet. Kein Autor und keine Autorin, die nicht in seinem oder dem Auftrag des Berliner Tochterunternehmens Galiani auftreten würden, so wie im vergangenen Jahr der Suhrkamp Verlag seine Leute an die Mikrofone schickte. Der Partyseelöwe versteht nicht viel von Literatur. In seiner Unterwasserbibliothek befinden sich nur zwei Bücher: eine Jugendausgabe von „Robinson Crusoe“, die ihm seine verstorbenen Eltern schenkten und in der er manchmal sein Schicksal zu erkennen glaubt, sowie Dostojewskis „Schuld und Sühne“, das er nach dem ersten Drittel gelangweilt abbrach.

Ein Tablet mit über 100 aktuelleren Büchern, das ein Passagier der 7-Seen-Rundfahrt kürzlich über Bord gehen ließ, versagte nach zwei Tagen den Dienst. Er hat, wenn er ehrlich ist, nicht die geringste Ahnung. Ob die Schriftsteller, denen er beim Sommerfest von Kiepenheuer & Witsch begegnet, nun Maxim Roßbacher oder Verena Biller heißen, ist ihm Schwanz wie Flosse. Und er rechtfertigt sich damit, dass es auch den anderen ziemlich egal zu sein scheint. Dies hier ist in erster Linie ein fröhliches Gelage unter Literaturbetriebsmenschen und solchen, die es womöglich gerne wären.

Viele kennt er aus den Vorjahren. Mit stiller Bosheit beobachtet er, wie Nasolabialfalten früher glatte Gesichter zerschneiden und Prachtfrisuren zusehends in sich zusammenfallen. Gierig saugt er aber auch die Energie der Nachrücker auf. In der feuchten, aber nicht fröhlichen Einsamkeit seines Daseins kennt er keine schönere Gelegenheit, sich vom Kreislauf des Lebens anrühren zu lassen. Er bringt nur allmählich durcheinander, wann ihm dieser oder jener zum ersten Mal aufgefallen ist. Alles vermischt sich zu einem einzigen großen Sommerfest.

An 2018, denkt er beim benommenen Aufwachen am nächsten Morgen, wird er sich vor allem wegen des scharfen Herbstwinds erinnern, der Wellen übers Wasser jagt und Zuhörer aus der Bühnenrotunde am Ufer vertreibt. Er wirft einen Blick in den Kalender, um die Zeit bis zum nächsten Sommerfest zu ermessen und seufzt zum Steinerweichen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false