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Sommernächte (11): Große Gefühle: Charon fährt Taxi

Lang ersehnt, erträumt, erdichtet und erinnerungsträchtig: Sommernächte sind die schönste Auszeit des Jahres. In den Ferien erzählen wir an dieser Stelle davon. Diesmal: Große Gefühle.

Die Sommernacht auf einer griechischen Fähre, klar, das ist pure Romantik. So viele haben schon besungen, wie das Schiff ablegt, die Sonne hinter dem letzten Hügel untergeht. Der Mensch zwischen Himmel und Meer hegt erhabene Gefühle, trollt sich in seinen an Deck ausgebreiteten Schlafsack – und schon dämpft ein Schluck aus der Ouzo-Flasche das stampfende Geräusch der Maschinen.

Das mag so für manchen stimmen, der ein oder andere erinnert sich aufs Stichwort verklärten Blicks an sein Inselhopping zu studentisch bewegten Zeiten. Doch die nostalgischen Gefährte von damals mit ihren malerisch zusammengerollten Tauen und einem Kapitän, dem die obligatorische Papastratos im Mundwinkel steckt – es gibt sie nicht mehr. Reisen ist eine Industrie, und die griechischen Fähren gleichen denen der Ostsee aufs Haar bis auf Reling und Rettungsboot. Logistische Großunternehmen verschiffen tagtäglich tausende Menschen, Autos, Waren. Wer heute über Nacht reist und es sich leisten kann, bucht eine Kabine mit Dusche, Fernsehen und Fototapete mit Sonnenuntergang – Romantik perdu, Muse adieu.

Und dann doch: der große Moment. Stunden später, nachts um drei, Ankunft auf der Insel Chios: ein Städtchen im Ausnahmezustand, ein Treiben am Hafen wie am helllichten Tag, offene Cafés, Umarmungen, Wiedersehenstränen, und das alles in seidiger Luft. Als wechselte man hinüber in einen anderen Film – der kaum verscheuchte Schlaf taucht die Szene in Traumlicht. Wir nehmen ein Taxi, das uns in den Norden nach Limnos bringt. Eine Stunde dauert dieser letzte Teil unserer Anreise. Der Chauffeur, unser Charon zu Lande, hat freundlicherweise seine Zigarette ausgedrückt, und schon geht es los im Wahnsinnstempo über einen Pass auf die andere Seite der Insel.

Brauchen wir die Geschwindigkeit, um uns zu spüren?

Vielleicht braucht der Städter das Auto und die Geschwindigkeit, um sich zu spüren. Diese Fahrt durch eine duftende Nacht bleibt unvergessen: erst durch holprige Gassen, vorbei an heruntergekommenen Villen, in Serpentinen bis in die Höhen, wo auf beiden Seiten der Straße im Scheinwerferlicht nur noch karstiges Gestein und Gestrüpp aufscheint und an den steilsten Stellen mit Heiligenhäuschen und brennenden Kerzen allzu riskanter Fahrer gedacht wird, und schließlich in sanften Kurven durch Olivenhaine bis zu unserem Haus am Meer. Da fragt eine piepsig-müde Stimme vom Rücksitz: Wie lange noch? Es hätte ewig weitergehen können.

Weitere Texte der Serie: Draußenschlafen (10.7.), DieNachtigall (13.7.), Sommerdüfte (16.7.), Weckerklingeln (20.7.), Marseille (24.7.), Hoteltipps (27.7.), Seenot (30.7.), Wintersehnsucht (2.8.), Glühwürmchen (7.8.), Dunkelheit (10.8.), Mücken (20.8.), Lebensfries (24.8.)

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