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Am Forcki. Achtziger Jahre in Friedrichshain: ein Blick auf die damalige Zellestraße vom Forckenbeckplatz aus.

© privat

Sommerserie Berliner Ruinen (4): Dächer der Verheißung

Vom „Langen Jammer“ bis zur Karl-Marx-Allee: Erinnerung an eine Stadt, deren Ruinen Abenteuerspielplätze waren - im Friedrichshain der Achtziger.

Ruinen sind sichtbar gewordene Zeit. Stolze Bauten und Lieblingsorte zerfallen, einstige Kostbarkeiten werden zu Schrott. Die Relikte der Vergangenheit entzünden die Fantasie. Gedächtniskirche, Anhalter Bahnhof: Berlin hat Ruinen als Wahrzeichen. Auch wenn die Stadt längst nicht mehr ruinös aussieht, hat der Zahn der Zeit Spuren hinterlassen. Unsere Sommerserie folgt ihnen.

Dieser Text beginnt mit einem Mädchen, vielleicht drei Jahre alt, am Forcki. Forckenbeckplatz. Berlin-Friedrichshain. Das Mädchen sucht Ostereier, plantscht im knöchelhohen Wasser, nackt mit Badekappe. Holt sich Schürfwunden, sucht Kastanien, lernt hier Fahrradfahren. Es sind die achtziger Jahre. Die Fassaden tragen Einschusslöcher, auch noch vierzig Jahre nach dem letzten Krieg. Die Fassaden: einhellig grau.

Dies ist eine Erinnerung. An eine Stadt, deren Putz bröckelte. In die der Krieg Breschen geschlagen hatte. In manche dieser Lücken waren neue Klötze gestellt worden oder notdürftige Baracken.

Eine Stadt, die es sich leistete, in ihrem Herzen undefiniertes Terrain zu erhalten, weil sie es sich nicht leisten konnte, das anders zu machen. Heute würde man sagen: eine Stadt voller Ruinen. Damals hätten wir sagen können: Der beste Abenteuerspielplatz der Welt. Aber so was sagten wir nicht. Wir spielten darauf.

Wir wohnten seit 1982 in der Zellestraße, zwischen Forcki und Rigaer Straße. Meine Eltern hatten die Wohnung im Tausch gegen eine begehrte Plattenbauwohnung in Erkner bekommen. 71,10 Mark für 90 Quadratmeter.

Der junge Mann mit goldenem Schnurrbart

Im Erdgeschoss die Säuferfamilie D., links Junior, rechts Senior. Oben M., der immer brüllte, wenn Klavier geübt wurde. Das war nicht schön, nicht schlimm, es war so. Es wohnten auch andere da, aber an die erinnere ich mich nicht. Nur an den jungen Mann mit goldenem Schnurrbart im Hinterhof, in den ich ein bisschen verliebt war.

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Hinter dem Forcki lag das Ende der Welt: eine Mauer aus Backstein, ein verschlossenes Tor. Zutritt verboten. Damals Niemandsland, heute weiß ich: der zentrale Schlachthof Ost-Berlins. Ein riesiges Areal. Darüber hinweg führte eine lange Brücke zum S-Bahnhof Storkower Straße, mit blickdichten Fenstern. In der Erinnerung ist die Brücke endlos, Wikipedia sagt: über 500 Meter lang. Wikipedia kennt auch den Spitznamen. „Langer Jammer“.

In der Rinderauktionshalle sitzt ein Fahrradladen

Ein kurzer Stummel dieser Brücke steht noch heute. Wo der Übergang unvermittelt abbricht: ein Penny. In der gewaltigen Rinderauktionshalle ist jetzt ein hipper Fahrradladen, die Hammelauktionshalle steht entkernt auf einer Wiese und scheint noch zu warten, was wird. In den Rinderställen sind schmucke Townhouses mit Dachterrasse, Adresse vorsichtshalber: „An den Eldenaer Höfen“. Der „Lange Jammer“ hat es auf ein Straßenschild geschafft.

Der „Lange Jammer“ verhieß für uns in den 1980ern Ausflüge ins Grüne. Von der Storkower Straße, bis 1977 Bahnhof „Zentralviehhof“, fuhren wir los nach Grünau. Dass der Weg dahin schauerlich war, hatte nichts mit geschlachtetem Vieh zu tun, sondern mit beißendem Uringeruch und ewigem Dämmerlicht. Geheimnisvoll, aber Alltag. Ein seltsamer Ort von vielen. Auch damals bereits Erwachsene aus meinem Bekanntenkreis erinnern sich nicht daran, im Schlachthof je Aktivität wahrgenommen zu haben.

Als Kind schien mir das Terrain riesig

Wenn wir Kinder nicht heimlich fernsahen („Bonanza“!), trieben wir uns mit anderen Kindern herum. Eltern arbeiteten oder hatten zu tun. Als Kind schien mir mein Terrain riesig, in Wahrheit war es nur ein paar Blocks groß. Das Koordinatennetz bestand aus den Adressen derer, mit denen man die Nachmittage verbrachte. Die brave G. schräg gegenüber, die runde J. in der Proskauer, der „Bonanza“-Freund in der Bänsch, der „Alfons Zitterbacke“-Freund in der Liebig.

Mit zehn, die Mauer war gerade weg, verlagerte sich mein Territorium. Seitdem verbrachte ich die meiste Zeit mit E. Sie wohnte in der Rigaer, keine 100 Meter von Tür zu Tür. Mit E. entfaltete der Abenteuerspielplatz, der unser Viertel war, sein ganzes Potenzial.

Sie hatte ein Zimmer mit Blick auf die Hofseite der Rigaer Straße: eine wunderbar undurchsichtige Industriebrache. Flache Garagendächer, dazwischen ein paar kleinere Fabrikhäuser aus Klinker. Ich kann mich nicht erinnern, ob dort gearbeitet wurde. Ich weiß nur, es sah nicht danach aus. Ich kann mich nicht erinnern, wer auf die Idee kam, in dem Gelände herumzuklettern. Wahrscheinlich lag es einfach zu nahe, um es nicht zu tun.

Garagendächer? Ein Klacks!

Wir begannen mit den teerbedeckten flachen Garagendächern. Das war ein Klacks. Geheime Zeichen mit Kreide machten es aufregender. Die Kreide, eingewickelt in bunte Stofftaschentücher, führte ich in dem roten Brotbeutel aus Leder mit, mit dem ich eingeschult worden war. Der dazugehörige Lederranzen war da schon Vergangenheit.

Wir gingen oft „auf die Dächer“, es war unser Geheimnis. Wir robbten über schmale Mauern zu benachbarten Dächern, das Schwindelgefühl war herrlich. In den Brotbeutel kam eine Taschenlampe. Wir nahmen uns das Untergeschoss vor.

Die flachen Garagen erwiesen sich als banal im Gegensatz zu der Unterwelt. Der Keller war eine Halle. Meterhoch, die Erinnerung macht daraus eine Tropfsteinhöhle. Eine leere Lagerhalle? Auf dem Boden Schienen. Antransporte, Abtransporte, wovon?

Kinderschänder vermuteten wir überall

Der Schauer, das nicht zu wissen: unvergleichlich. Bis wir eines Tages einem Mann dort unten begegneten, ein Arbeiter vielleicht. Damals dachten wir: ein Kinderschänder. „Kinderschänder“ vermuteten wir überall. Wer sonst würde sich dort im Dunkeln allein herumtreiben? Außer uns natürlich.

Danach trauten wir uns nicht mehr hin. Offiziell ging das mit den Dächern zu Ende, als wir unseren Eltern davon erzählten. Sie hatten tatsächlich nichts gewusst. 1994 wurde unser Haus generalsaniert. Wir zogen um, eine Straße jenseits der Karl-Marx-Allee. Das andere Ende der Welt.

Altbau, aber bereits saniert. Da konnte man auch aufs Dach. Von oben sah man den Fernsehturm. Neue Blickrichtung. Bald fuhren wir in Pelzmänteln aus dem „Humana“ in die „Assel“ oder ins „Café Cinema“, statt Zeichen auf Garagendächer zu malen. Noch ein bisschen später verloren wir uns aus den Augen.

Seiler beschreibt die Verheißung

Lutz Seiler, der in besetzten Wohnungen im Friedrichshain lebte und in der „Assel“ kellnerte, als ich mit E. über die Dächer zog, hat Worte für das gefunden, was auch uns Kinder womöglich anzog. Er hat die leeren Wohnungen als „Höhlen der Verheißung“ beschrieben. Graue, backsteinerne Höhlen, „in die man sich verkriechen konnte, um von dort aus, gut verborgen, der neuen Welt den eigenen Anteil abzutrotzen.“

So schreibt er das in der Erzählung „Meine Wohnung“. Auch E. und ich haben der noch neuen Welt den eigenen Anteil abgetrotzt, denke ich heute. Die Dächer gibt es nicht mehr. Aber es gab sie, wir waren da. Und die Bilder dieser Brachen haben sich eingebrannt. Sie sind unsere Beute. Die einzige. Fotos gibt es nicht.

Der Forcki hat jetzt einen Zaun

Neulich bin ich noch mal in der Zellestraße herumgestreunt, als Touristin. Der Forcki hat jetzt einen Zaun. Die Schule heißt Justus-von-Liebig-Schule. Nur ein paar Meter weiter ist der Straßenasphalt angeschmolzen, Spuren der Kämpfe zwischen Besetzer:innen der „Rigaer 94“ und der Polizei.

Unser Wohnhaus trägt Lindgrün, es ist um ein Geschoss gewachsen und einen Fahrstuhl gibt es auch. Im Hof massenweise Fahrräder, im Hausflur wird auf Deutsch und Englisch vor Diebstahl gewarnt. Der Treppenknauf aus Holz ist noch der alte: ein Frauengesicht mit gesenktem Blick. Unterm neuen Anstrich (türkis) blitzen Reste der vertrauten Farbe vor. Braun.

Wo ist die Stadt der Kindheit geblieben?

Dieser Text endet mit einer Frau Ende dreißig, die sich fragt, wo die Stadt ihrer Kindheit geblieben ist. Die Tür von E.s altem Haus ist offen, ich gehe in den Hof. Wo mal die Teerdächer waren, erhebt sich heute eine Wand. Neue Wohnblocks, sieben Stockwerke hoch.

Weiße Fassaden, viele Fenster. Unten umzäunte Grünflächen, ganz oben Dachterrassen. Ein freundlicher Mann lässt mich von E.s altem Haus auf dieses neue Viertel im Viertel schauen: Häuser, die überall stehen könnten. Am Rand von Paris – oder Potsdam.

Das Hoftor ist verschlossen

Ich versuche eine Annäherung von der anderen Seite. Auch hier dichte Bebauung, DDR-Platte Wand an Wand mit granitfarbenem Neubau, daneben tatsächlich: Klinkerfassade. Ein Überbleibsel des bekannten Terrains, topsaniert. Im Internet lese ich später von „hochwertigen Lofts“, ein „Leben am Hotspot.“ Kaufpreis für 95 Quadratmeter: 378 000 Euro.

Das große Hoftor ist verschlossen. Eine junge Frau mit Fahrrad kommt, auf dem Sitz ein Mädchen. Es ist vielleicht drei. Ich fange die Frau an der Tiefgarage ab und frage, ob ich mal in den Hof schauen darf. Kindheitserinnerungen und so. Oh, sagt sie. Sie versteht, sagt sie. Sie sagt, durch das Gitter könne man doch alles sehr gut sehen.

Lena Schneider

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