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Kultur: Sonne, Mond und Nase

Vor 350 Jahren starb Cyrano de Bergerac. Nun erscheinen seine fantastischen Romane auf Deutsch

Das Publikum war entzückt, als Edmond Rostands Versdrama „Cyrano de Bergerac“ im Dezember 1897 zum ersten Mal über die Bühne ging. Ob Cyrano hundert Angreifer in die Flucht schlug oder für seinen Nebenbuhler empfindsame Episteln an die geliebte Roxane verfasste – der Mann mit der großen Nase handhabte Degen und Feder gleichermaßen vorzüglich. Hier konnte sich die Grande Nation in all ihren edlen Tugenden wiedererkennen – und das in Zeiten ihrer tiefsten Spaltung. Die Dreyfus-Affäre war in vollem Gange, nur einen Monat nach der Theaterpremiere sollte Émile Zolas „J’accuse“ die Geburtsstunde des modernen Intellektuellen einläuten. Mit dem Dreyfus-Anhänger Rostand, so schien es, war der letzte Romantiker vom Schlage eines Hugo oder Dumas, war ein nationaler Held zu feiern.

Das Bild des in Hexametern parlierenden Haudegens Cyrano ist seit Jean-Paul Rappeneaus Verfilmung des Stückes mit Gérard Depardieu (1990) endgültig in den Kanon der Massenkultur eingegangen. Und doch ist es nur die halbe Wahrheit. Der historische Savinien Cyrano de Bergerac, der vor 350 Jahren starb, war weit mehr: ein Phantast, ein großartiger Schriftsteller und ein Lästerer vor dem Herrn. Angesichts der Blasphemien, die er in seinen fiktiven Reiseabenteuern zum Mond und zur Sonne ausbreitete, pflegte die Heilige Inquisition für gewöhnlich nach dem Scheiterhaufen zu rufen.

Geboren wurde Cyrano 1619 in Paris. Als Jugendlicher ging er zu den Gascogner Garden und wurde im Duell wie auf dem Schlachtfeld ein gefürchteter Draufgänger. Nach zwei schweren Verletzungen quittierte er den Militärdienst, um sich fortan der Wissenschaft und Literatur zu widmen. Der Legende nach soll er sich den Zugang zum Kreis seines Lehrmeisters, des Philosophen Pierre Gassendi, mit dem Degen erfochten haben. Bald war Cyrano als Libertin bekannt, was weniger den ausschweifenden Lebenswandel als vielmehr die Haltung eines philosophischen Freigeistes meinte. Seine satirischen Briefe über Aberglaube, Politik und Liebe wurden in den Salons verlesen, seine Tragödie „Tod der Agrippina“ sorgte 1653 wegen ihrer gotteslästerlichen Tendenz für einen Skandal. Da ahnte keiner, was der Dichter noch in seiner Schublade hatte. Ob Cyrano an einem Januartag des Jahres 1654 tatsächlich von einem herabfallenden Dachbalken verletzt wurde oder ob er einem Attentat zum Opfer fiel, das ihn zu religiöser Raison bringen sollte, ist bis heute ungeklärt. Fest steht hingegen, dass die Manuskripte seiner Romane verschlungene Wege gingen. Erst nach Cyranos frühem Tod am 28. Juli 1655 wurden sie von seinem Freund Henri Lebret – vorsorglich zensiert – herausgegeben: „Die Reise zum Mond“ erschien 1657, „Die Reise zur Sonne“ 1662. Erstmals liegen diese kapitalen Beiträge zum Genre der literarischen Utopie nun auch bei uns in einer ungekürzten Fassung vor – hervorragend kommentiert und in funkelndes Deutsch übersetzt von Wolfgang Tschöke.

Gewiss, Cyrano war nicht der Erste, der waghalsig Richtung Mond aufbrach – und er würde nicht der Letzte sein. Schon der antike Spötter Lukian von Samosata hatte im 2. Jahrhundert seinen Menippus, gerüstet mit Adler- und Geierflügeln, ins All geschickt. Und Cyranos Landsmann Jules Verne goss seine beiden Mondreisen („Von der Erde zum Mond“ 1865 und „Reise um den Mond“ 1870) in die neue Form des „wissenschaftlichen Romans“. Doch während sich Vernes Fantasie an den technischen Apparaten anlagerte, die das Zeitalter der Industrialisierung zur Verfügung stellte, vertraute Cyrano seiner entfesselten Einbildungskraft und der zeitgenössischen Wissenschaft. Seine Romane sind nahezu enzyklopädische Kompendien der physikalischen, astronomischen und philosophischen Kenntnisse seiner Zeit.

Allein die Idee, „dass der Mond eine Welt ist wie diese hier, der die unsrige als Mond dient“, setzt jene „Kopernikanische Wende“ voraus, die das geozentrische Weltbild des Ptolemäus revolutionierte und die Planeten um die Sonne kreisen ließ. Monsieur Dyrcona, der ins Anagramm gewendete Cyrano, reist in ausgetüftelten „Maschinen“. Mal ziehen ihn Kugelfläschchen voller Tau gen Sonne, mal macht er sich ein durch Hitze produziertes Vakuum zunutze. Und nebenbei verhandelt er in gelehrten Disputen Fragen des Magnetismus, der Natur des Feuers oder des Atoms.

Wer eine Vielzahl von Welten annimmt, bestreitet zugleich den privilegierten Platz der Erde im Universum. Cyrano aber geht noch weiter, indem er den Menschen als Krone der Schöpfung entthront. Von den Völkern des Mondes und der Sonne wird Dyrcona wegen des Verdachts verfolgt, eines der dummen, eitlen und fantasielosen Wesen zu sein, das die Natur „wie ein Ungeheuer geschaffen hat, dem sie aber dennoch den Ehrgeiz eingab, allen Lebewesen zu befehlen und sie auszurotten“. Und wenn der streitbare Atheist schlüssig „beweist“, dass Gott den Kohl mehr liebt als den Menschen, wenn er das irdische Paradies auf dem Mond verortet und sich vom Teufel selbst zurück zur Erde expedieren lässt, dann nimmt es nicht wunder, dass die Vertreter der Kurie ihn „ganz ohne Aufsehen verbrennen“ lassen wollen.

Natürlich stehen Cyranos außerirdischen Gemeinwesen andere Großtexte des utopischen Genres wie Thomas Morus’ „Utopia“ (1516), Tommaso Campanellas „Sonnenstaat“ (1602) oder Francis Godwins „Mann im Mond“ (1638) Pate. In der imaginären Topographie der Sonne grenzt das Königreich der Liebenden an die Republiken des Friedens und der Gerechten. Kriege werden mit den besseren Argumenten gewonnen, zu Königen wählt man die Schwächsten. Man spricht eine ideale „Ursprache“ und ernährt sich vom bloßen Geruch einer Speise. Die Zeche wird in Versen beglichen, die gemäß ihrem „Wortspielgehalt“ von „geschworenen Poesierichtern“ taxiert werden. Und im Gruß der Lunarier „Seid bedacht, frei zu leben“ darf sich jenes Europa gemeint fühlen, das noch wenige Jahre zuvor Giordano Bruno verbrannt und gerade den Dreißigjährigen Krieg hinter sich hatte. Doch trotz technischer Finessen wie mobiler Städte und tragbarer Hörbücher, trotz der segensreichen Erfindung von Sonnenuhren, denen die langen Nasen (!) der Bewohner als Zeiger dienen, mischt sich ein Wermutstropfen ins Glück. Wie Dyrcona in einem inquisitorischen Prozess seinem Menschsein abschwören muss, erinnert stark an Galileis erzwungenen Widerruf des Jahres 1633. Die umfassende Toleranz, die der Frühaufklärer Cyrano suchte, blieb auch in planetarischen Gefilden unauffindbar.

Was die Lektüre von Cyranos Romanen noch heute zum Abenteuer macht, ist neben der ungebremsten Fabulier- und Spottlust sein Urvertrauen in die Fantasie. Maxim Gorki hatte beklagt, „dass der Mensch, nachdem er über die Erde zu fliegen gelernt hat, sogleich aufhörte, sich darüber zu wundern“. Die Dialektik von Realitätsgewinn und Traumverlust dürfte den frühen Flugpionier Cyrano de Bergerac noch kaum geschert haben. Doch um unsere heillos entzauberte Welt der Moderne wieder ein wenig zu verzaubern, kommen seine Romane gerade recht.

Savinien Cyrano de Bergerac: Reise zum Mond und zur Sonne. Zwei Romane. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Tschöke. Eichborn Berlin, Berlin 2005. 360 Seiten, 22,90 €.

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