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Kultur: Sophiensäle: Schraube ins Vergessen

Die unendliche Bewegung - ein Menschheitstraum. Das Perpetuum mobile kreist lautlos, ohne jede Energiezufuhr und macht uns alle arbeitslos.

Die unendliche Bewegung - ein Menschheitstraum. Das Perpetuum mobile kreist lautlos, ohne jede Energiezufuhr und macht uns alle arbeitslos. Gleichzeitig eliminieren Biochemiker das Alterungsgen. Ewig am Leben, satt und ohne Aufgabe findet die Menschheit im Schatten des Ewigen Rades den Stillstand. Was aber, wenn die Unruhe im Menschen schmerzhaft festsitzt, wenn wie durch die Demenz-Erkrankung ein endloser Bewegungszwang durch den Körper flutet? Dieser Zustand, den die Wissenschaft "The Wandering Problem" nennt, hat Christoph Winkler zu einer Choreografie gleichen Namens inspiriert, die den Abschluss der Tanztage in den Sophiensälen bildete. Körperliche Exkursionen in eine Welt versagender Erinnerung, in die jeder fünfte Bundesbürger im Laufe seines Lebens ein- und abtaucht. "Die räumliche Umgebung ist überschaubar und offen, frei von unnötig verwirrenden und widersprüchlichen Reizen zu gestalten", so empfiehlt es Dr. Jens Bruder in seinen "Zehn Regeln zum Umgang mit Demenz-Kranken". Daran hält sich Winkler. Der ehemalige Spartakiade-Sieger und Tänzer im Folklore-Ensemble der Deutschen Post Leipzig schickt seinen Protagonisten Ingo Reulecke auf ein weißes Tanzboden-Quadrat, das an zwei Seiten von gespannten Stoffbahnen locker eingefasst wird. Kein Pantherkäfig, doch Ort einer immerwährenden Bewegung, die ihren Mittelpunkt verloren hat. So sehr Reulecke auch schlängelnd in den Raum ausgreift, herumstelzt, nach immer neuen Kontaktpunkten zum Boden sucht - es wächst keine Vertrautheit, die Welt weigert sich, Heimat zu werden. Sein Blick nimmt nichts in Besitz. Das Sprungtuch der eigenen Biografie ist zerrissen, das soziale Netz zerfallen. So lebt er hin. Und der Zuschauer folgt ihm, halb fasziniert von dem vergeblich aufblühenden Bewegungsrepertoire, das Winkler und Reulecke zu Tage fördern, halb argwöhnisch, glaubt er sich doch einem kühlen Bühnenexperiment auf den Leim gegangen. Dann herrschen Stille und Stillstand. Für 120 Sekunden ist die Bühne leer. Und die Unruhe in uns wird laut, wie die Frage, "ob wir nur Drift sind oder auch Stätte". So hat das Botho Strauß einmal schrieben. Ein kostbarer Moment. Danach schraubt sich Reulecke weiter ins Vergessen hinein - bis wir ihn nicht mehr sehen können.

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