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Kultur: Sowjetische Lehrjahre

Wolfgang Ruges Erinnerungen an seine Zeit in Stalins Lager.

Warum haben deutsche Kommunisten, die Stalins „Großen Terror“ am eigenen Leib erfuhren und Jahre ihres Lebens in sowjetischen Lagern zubrachten, jahrzehntelang über ihre Erfahrungen geschwiegen? Und das selbst nach Chruschtschows Rede über Stalins Verbrechen auf dem XX. Parteitag 1956? Auch Eugen Ruge, mit seinem Generationenroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ derzeit in aller Munde, stellt sich diese Frage im Nachwort zu den Erinnerungen seines Vaters. Wolfgang Ruge, der angesehene Historiker der DDR, war erst 1956, 23 Jahre nach der Flucht seiner Familie aus Hitler- Deutschland, zurückgekehrt – nachdem er 15 Jahre in Lagerhaft und Verbannung zugebracht hatte. Auch der Sohn hat darauf keine schlüssige Antwort. Zwar hatte sein Vater schon in den letzten Jahren der DDR mit Aufzeichnungen begonnen, dies aber dem Sohn verheimlicht.

„Gewiss“, räumt Eugen Ruge ein, „eine Veröffentlichung in der DDR war unmöglich. Und eine Veröffentlichung im anderen, westlichen Deutschland, das er bis zum Schluss als das fremde, ja sogar als das gegnerische empfand, kam für Wolfgang Ruge nicht infrage.“ So kann auch nur der Sohn aussprechen, dass den Vater wahrscheinlich Repressalien in der DDR erwartet hätten. Vielleicht war das ja die Ursache, dass er seine ersten Aufzeichnungen liegen ließ und erst 2003 in einer Rohfassung bei einem ehemals DKP-nahen Verlag erscheinen ließ? Eugen Ruge kann nur mutmaßen, der Vater habe, obwohl Historiker, „von der Vergangenheit nichts wissen“ wollen: „Hat er das Erlebte verdrängt, um mit seinen Kompromissen leben zu können?“

Das wird man nach der jetzt vorliegenden, von Eugen Ruge betreuten Ausgabe unter dem Titel „Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion“ nicht mehr behaupten können. Wolfgang Ruge, der als 16-Jähriger mit den Eltern in die Sowjetunion kam und dort als Erwachsener vier Jahre im Lager und elf Jahre in der Verbannung lebte, hat in seinen Aufzeichnungen nichts beschönigt und – wie es scheint – auch nichts vergessen, obwohl er bei ihrer Fortsetzung bereits unter einer beginnenden Demenz litt.

Aber es gibt, um dem Sohn und Bearbeiter zuzustimmen, „keinen Zweifel, dass es sich um ein aufrichtiges Buch handelt. Es ist kein Rechtfertigungsbuch, wie Autobiografien es mitunter zu sein pflegen.“ Wolfgang Ruge verschweigt weder seine durch den NKWD erpresste, zum Glück nicht realisierte Verpflichtung als Spitzel, noch das Geständnis eines Mitbewohners im Moskauer Hotel „Passage“, mit einem weiteren Genossen den Polizistenmord auf dem Berliner Bülowplatz 1931 begangen zu haben. Was aus „seinem Kumpel geworden ist, weiß ich nicht“. Dass dieser Kumpel Erich Mielke hieß, scheint Ruge nicht erfahren – oder doch verdrängt? – zu haben.

Die ersten Monate in Moskau verbrachte er im legendären Hotel „Lux“, während die Mutter in einer Geheimschule der Komintern untergebracht war. Die beiden Brüder Ruge schliefen in einem Gemeinschaftszimmer und folgten den Gesprächen der Politprominenz. Dabei „gab es fast ausschließlich ein Thema: die tschistka, die damals in Gang befindliche Parteireinigung“. Schon bald habe er herausgefunden, dass es bei der geforderten Kritik und Selbstkritik um die Existenz ging und das gefährlichste Wort in diesen Verfahren Opposition hieß. „Ich hatte meine erste Sowjetlektion erhalten. Verkraftet hatte ich sie noch nicht.“

Es war nur ein Vorspiel zum Großen Terror, den er nach einer Lehrzeit als Kartograf und dem Verlust seiner Unterkunft auf den Straßen Moskaus vagabundierend erlebt. Er übernachtet auf Bahnhöfen, bis ihm eine Freundin ein Zimmer bei einer Witwe verschafft. Während seine Mutter und ihr Freund mit geheimen Aufträgen nach Frankreich ausreisen und sein Vater nach Deutschland ausgeliefert wird, findet er wieder Arbeit als Zeichner und lebt mit einer verheirateten Frau zusammen. Von ihr trennt er sich 1940 für eine neue Partnerin und Ehefrau und kann noch ein Fernstudium der Geschichte und Literatur mit der Bestnote abschließen, bevor er nach Kriegsbeginn 1941 das erste Mal als „deutscher Spion“ verhaftet wird wie sein Bruder Walter. Er selbst kommt noch einmal frei, wird aber im selben Zug wie Wolfgang Leonhard nach Kasachstan evakuiert.

Von nun an geht es von Lager zu Lager, als „Arbeitsarmist“, Brigadier im Gleisbau, Heizer und Waldarbeiter bei Hungerrationen und Temperaturen bis minus 40 Grad. Beim Baumfällen stürzt ihm ein Stamm auf den Fuß, was zwar das Ende der Waldarbeit, aber nicht der Lagerhaft bedeutet. Erst mit Kriegsende 1945 gilt er als „gewöhnlicher Sonderausgesiedelter“, der 1946 das Lager verlassen und ein Privatquartier beziehen kann. Eine Verordnung Molotows von 1948 verbietet jedoch jede Entfernung vom Ort der Verbannung. Das bedeutet noch weitere acht Jahre Kasachstan, die er im Umkreis der Lagerstadt in einem Projektierungsbüro unter früheren Lagerhäftlingen verbringt. Einer von ihnen vegetiert dort schon seit 1928 (!) und bekennt, er würde sich „draußen gar nicht mehr zurechtfinden“. Ruge beginnt erneut ein Fernstudium, das er mit dem Staatsexamen als Historiker abschließt. Aus Mexiko erreicht ihn 1948 die Nachricht, dass seine Mutter den Krieg überlebt hat; später lebt sie in der DDR und besucht ihn vor seiner Rückkehr nach Deutschland in Swerdlowsk. Auch seinen gleichfalls verbannten Bruder sieht er wieder.

1950 lernt er seine dritte, russische Frau Taja kennen. Nur wenige Wochen nach dem XX. Parteitag können sie in die DDR ausreisen und werden im Politbüro der SED von Karl Schirdewan begrüßt, der „meine Odyssee in der Sowjetunion mit keinem Wort erwähnt“, aber ihn auf seinen Wunsch an die Deutsche Akademie der Wissenschaften vermittelt. Das ist mehr als Wolfgang Ruge erwartet hat, und er, der 2006 gestorben ist, hat es der DDR sein Leben lang gedankt.





– Wolfgang Ruge:
Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion. Herausgegeben von Eugen Ruge. Rowohlt Verlag, Reinbek 2012. 496 Seiten, 24,95 Euro.

Hannes Schwenger

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