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Ich bin wer: Adolpha Van Meerhaeghe (l.), die Darstellerin von Chantal, war früher selbst obdachlos.

© J.C. Lother

Sozialkomödie über obdachlose Frauen: Die Überfliegerinnen

Weiblich, ledig, obdachlos: In der französischen Sozialkomödie „Der Glanz der Unsichtbaren“ besetzt eine Gruppe Frauen ein Wohnheim.

Chantal ist eine ehrliche Haut. Wenn ihre potenziellen Arbeitgeber wissen wollen, wo sie das Reparieren von Elektrogeräten gelernt hat, erzählt sie es frei von der Leber weg. Im Knast. Sie ist eine Mörderin, hat ihren Mann erschossen, der prügelte so viel. Sie kann nicht anders – und wieder ist der Job perdu. Chantal muss dringend gecoacht werden. Sie muss ja nicht lügen, braucht nur das ein oder andere für sich zu behalten. Große Herausforderung.

Chantal ist eine der obdachlosen Heldinnen in der Sozialkomödie „Der Glanz der Unsichtbaren“. Tiefe Stimme, resoluter Gang, wenig Zähne, hoch erhobenes Haupt. Ob Spielkonsole oder Waschmaschine („Es war die Dichtung“), sie bringt alles wieder zum Laufen in der Tagesstätte „L’Envol“ für wohnungslose Frauen. Jetzt muss sie mit Audrey (Audrey Lamu), Hélène (Noémie Lvovsky) und den anderen Sozialarbeiterinnen nur noch Bewerbungsgespräche trainieren.

Adolpha Van Meerhaeghe, die Darstellerin der Chantal, hat selbst mal auf der Straße gelebt. Sie ist eine Wucht. Wie das gesamte Ensemble der Wohnungslosen: die Immobilienfachfrau, die sage und schreibe mal einen ganzen Tag gearbeitet hat, die Ex-Straßenhändlerin, die Ex-Domina, die Ex-Psychotherapeutin, die immer so schnell einschläft, kaum dass sie im Warmen sitzt – sie alle werden von Laiendarstellerinnen verkörpert und nennen sich nach berühmten Leuten, von Lady Di über Edith Piaf und Selma Hayek bis Brigitte Macron. Die Existenz ist eh futsch, was braucht’s da noch Klarnamen.

Triumph der Menschenwürde

Darf man das, ein Feelgood-Movie über ein Elendsthema drehen, halbdokumentarisch und mit Frauen, die sich weitgehend selbst verkörpern? In England haben Sozialkomödien Tradition, auf Basis des New British Cinema à la Ken Loach und Stephen Frears entstanden in der Thatcher-Ära tolldreiste Filme wie „Ganz oder gar nicht“ und „Brassed off“. Heiterkeit, rebellischer Witz, Aufbruchstimmung – auch in „Der Glanz der Unsichtbaren“ geht es um die Rettung der Würde.

Die Handlung setzt da ein, wo Claire Lajeunies Paris-Dokumentarfilm „Femmes invisibles“ aufhört. Lajeunie hat auch ein Buch über obdachlose Frauen geschrieben, es bildete die Grundlage für den Spielfilm von Louis-Julien Petit. 40 Prozent aller Wohnungslosen in Frankreich sind weiblich (in Deutschland 30 Prozent). Die Straße bedeutet für Frauen noch mehr Schutzlosigkeit und Gefährdung als für die Männer. Viele verbergen ihre Situation, leben versteckt, verschämt, sind auch deshalb auf Tageszentren angewiesen. Am Ende des Dokumentarfilms kann eine der Frauen einen Heimplatz ergattern. Sie hält ihren Zimmerschlüssel in die Kamera, eine Frage der Menschenwürde. Wie die kostenlose Dusche einmal die Woche und ein bisschen Kosmetik. Solche Szenen zeigt auch der Spielfilm. Regisseur Petit, Jahrgang 1983, der unter anderem bei „Willkommen bei den Sch’tis“ mitarbeitete, hat lange in solchen Unterkünften recherchiert und den Film in einer Provinzstadt angesiedelt.

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Hier kehrt die gerade erst sesshaft Gewordene freiwillig in ihre unbehauste Existenz zurück. Zu abgelegen das Heim, zu teuer der Bus, wie kann sie noch zum Betteln in die City kommen? Aber das „L’Envol“ soll geschlossen werden; zu ineffektiv, sagt das Sozialamt, nur vier Prozent der Besucherinnen wurden in die Arbeitswelt re-integriert. Als auch noch Chantals Nachtquartier, eine schäbige illegale Zeltstadt, von Baggern planiert wird, verfällt das Sozialarbeiterinnen-Quartett auf anarchische Ideen. Die Tagesstätte wird kurzerhand besetzt und zum Wohnheim umfunktioniert, mit Workshop-Angeboten, Video-Bewerbungstraining, Schminkkurs und Tag der offenen Tür samt Job- und Partnerbörse. Die Gesellschaft (oder wenigstens der Bruder mit seinem Kleinunternehmen) braucht diese hoch qualifizierten Frauen! Sie muss nur von ihnen erfahren. Der „Glanz der Unsichtbaren“ bricht auch eine Lanze für die miserabel bezahlte, kaum gewertschätzte Arbeit sozialer Dienste.

Ein Sozialstaat, der den Namen nicht verdient

Ein Märchen? Unbedingt. Alkohol, Drogen, kriminelle Energie, fast nichts davon rückt ins Bild. Dennoch wird die Realität nicht geschönt. Allein die Baggerszene vermittelt die ganze Härte eines Sozialstaats, der diesen Namen oft nicht verdient. Der Film bleibt so ehrlich wie Chantal bei ihren Vorstellungsgesprächen, ob es nun um das verkorkste Privatleben der Sozialarbeiterinnen geht, um die nervenzerrende, aber auch urkomische Bockigkeit so mancher „L’Envol“-Bewohnerin oder die tragisch vergeblichen Bemühungen um eine junge Junkie-Frau.

Zu guter Letzt stolzieren Chantal, Patricia, Marianne und die anderen durchs Spalier der Polizisten, als sei’s ein Catwalk, alle mit hoch erhobenem Haupt. Respekt! Selten einen Film ohne Happy End gesehen, der einen so frohgemut stimmt.
In 8 Berliner Kinos. OmU: Cinema Paris, fsk, Hackesche Höfe, Kulturbrauerei

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