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Soziologe Heinz Bude: "Merkels Unsicherheit ist ihre Stärke"

Was der Retro-Wahlkampf über Deutschland verrät: der Soziologe Heinz Bude über Krisenängste und symbolische Dramen.

Herr Bude, vor vierzig Jahren, 1969, endete schon einmal eine große Koalition. Damals begann eine Zeit großer ideologischer Auseinandersetzungen. Heute hingegen wird im Wahlkampf eher gedämpft gestritten, die Parteien unterscheiden sich – mit Ausnahme der Linken – nur noch in Nuancen voneinander. Woran liegt das?


Die Parteien haben sich nie mehr als in Nuancen voneinander unterschieden. Aber sie waren in der Lage, Wertekonflikte zu dramatisieren. Das war bei der Ostpolitik so oder bei Schröders Definition einer neuen Mitte. Gerhard Schröder ist Kanzler geworden, weil er herausgestellt hatte: Es gibt ein neues Lebensstil-Konglomerat, das kann mit Kohl nichts mehr anfangen. Wir haben neue dynamische Gewinnerschichten, die wollen diesen behäbigen Provinzialismus nicht mehr. Für eine Volkspartei ist es allerdings nicht ungefährlich, sich auf eine solche symbolische Dramatisierung einzulassen. Denn es geht immer um die Mitte der Gesellschaft, deshalb muss sie bei allem Trennenden immer auch das Gemeinsame betonen. Sonst hört sie irgendwann auf, Volkspartei zu sein.

CDU und SPD haben das Motto ausgegeben: Wir sind noch mal davongekommen, die Konjunktur springt wieder an, es kann so weitergehen wie vor der Krise, nur die Manager müssen bestraft werden. Ist das nicht etwas dürftig?

Diese Botschaft folgt durchaus der Stimmung in der Bevölkerung. Man hofft, ist sich aber nicht sicher, dass die Dinge ein gutes Ende nehmen. Deshalb darf der Ruf nach Veränderungen nicht zu dramatisch ausfallen. Aber es müsste einen Ausdruck des Rumorens in der Gesellschaft geben, das sich um den Ungerechtigkeitsbegriff entwickelt. Das habe ich im Wahlkampf vermisst. Die CDU hat die Strategie „Klug aus der Krise“ eingeschlagen und die Frage nach den Gewinnern und den Verlierern auf sich beruhen lassen. Die Wähler wissen nicht, wer nach Auffassung der Union am Ende die Zeche zahlen muss. Ob sie damit durchkommt, ist außerordentlich ungewiss. Und die Sozialdemokraten können auch nicht richtig auf die Tube drücken, weil ihnen die Linke ziemliche Konkurrenz macht. Der Vorteil der SPD der Schröder-Zeit war, dass sie das Thema soziale Gerechtigkeit verbinden konnte mit dem Thema der gesellschaftlichen Innovation. Jetzt ist von gesellschaftlicher Innovation gar keine Rede mehr, es bleibt nur noch das Thema Gerechtigkeit.

Mit Forderungen wie „Opel darf nicht sterben“.

Für die SPD ist diese Logik lebensgefährlich, wenn sie nur darauf setzt, gerät sie in einen schlechten Überbietungswettbewerb mit der Linken. Um diese Debatte führen zu können, müsste sie wiederum einen Korrekturbegriff an der Seite haben. Den gäbe es vielleicht, wenn sie einen Begriff der notwendigen Zukunftsentscheidungen hätte. Selbst wenn die Krise eine Finanzmarktkrise bleiben sollte, wissen wir schon einigermaßen sicher, dass sich die gesamte Produktpalette in den nächsten zehn Jahren dramatisch verändern wird, angefangen mit dem Elektroauto über den Zuschnitt der Wohnungen bis zu den Angeboten für Urlaubsreisen. Von Steinmeiers Deutschlandplan ist nur das absurde Versprechen hängen geblieben, vier Millionen Arbeitsplätze schaffen zu wollen. Die CDU sagt: Wir setzen auf Stabilität, keine Experimente. Ein bisschen wie bei Adenauer, der damit sehr erfolgreich war.

Politiker aller Parteien, selbst der FDP, machen das Versagen der Wirtschaftseliten für die Krise verantwortlich. Ist das der Versuch, einen Sündenbock zu finden?

Die Debatte um die Managergehälter ist letztlich technisch geblieben, weil man sich über Obergrenzen gestritten hat. Wenn man das Thema ernst nimmt, geht es um die Frage, was die moralische Grundgrammatik unserer Gesellschaft ist. Die Epoche der Gier, das Regime des egoistischen Nutzenmaximierers ist vorbei. Ein neues Zeitalter bricht an, bei dem nicht mehr der Markt, sondern die Gesellschaft im Vordergrund steht. Wer braucht Schutz? Wer muss zurückstecken? Wofür lohnt der Einsatz?

Merkel fuhr im „Rheingold“-Zug durch Deutschland, die FDP plakatierte Kohls alte Forderung „Leistung muss sich wieder lohnen“. Was sagt dieser Retro-Wahlkampf über unsere Gesellschaft aus?

Es fehlen in der Tat die Schlagworte der Jetztzeit. Wenn man die Inszenierung des Wahlkampfes als Indiz für einen allgemeinen Zustand nimmt, gibt die Bundesrepublik vor, das zu sein, was sie nicht mehr ist. Um Zeit zu gewinnen, greift man zurück. Nicht die Kraft eines auf die Probleme gerichteten Pragmatismus, sondern die Sehnsucht nach einer goldenen Zeit gibt den Ton an. Die Kanzlerin selbst ist der beste Ausdruck dieser „göttlichen Abwesenheit“.

Werden nach den Wahlen die alten Blockbildungen mit SPD, Grünen und Linken auf der einen und CDU und FDP auf der anderen Seite zurückkehren?

Eher nicht. Vor ein paar Tagen war schon von einem Szenario die Rede, dass Oskar Lafontaine in die SPD zurückkehren könnte. Dann müsste sich die SPD ernsthaft mit der Frage ihrer Wegdenkbarkeit beschäftigen, ich wüsste nicht, wie sie dann irgendwann noch Mehrheiten bekommen sollte. In Italien ist die Sozialdemokratie bereits verschwunden, in den Niederlanden beinahe zur Splitterpartei geworden, und in Frankreich spielt sie keine Rolle mehr. Die SPD muss aufpassen, sich nicht zu sehr in eine Blocksituation zu begeben. Schon deshalb wird es diese Blöcke wahrscheinlich nicht geben.

Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier ähneln einander in ihrem Habitus: Sie sind pragmatisch, ideologisch nicht festgelegt, rhetorisch schwach. Bräuchte es in einer Krise nicht eigentlich Charismatiker?

Nein, ich glaube, die Leute sind insgesamt sehr froh, dass es so gegangen ist. Eine der wesentlichen Aktionen des gesamten „Krisenmanagements“, um es mit Helmut Schmidt zu sagen, war Angela Merkels Auftritt im Oktober 2008, als sie vor der Kamera erklärte, dass der Staat für die Sparguthaben der Bürger mit einer Einlagensicherung hafte. Das war neben der Verlängerung des Kurzarbeitergeldes die wesentliche Intervention. Merkels Performance war total missglückt, aber sie brachte ihre Erklärung schon wieder so unglücklich hervor, dass sie dadurch sehr glaubwürdig wirkte. Sie war unsicher und unschlüssig. Die Botschaft lautete: Wir fliegen alle auf Sicht, deshalb müssen wir ruhig bleiben. Das ist auch gelungen, es kam zu einem großen übergreifenden Konsens von Politik und Wirtschaft. Ein prätendierter Charismatiker, der mit Ideen vorstößt, so wie es Sarkozy versucht hat, wäre eine Figur gewesen, die in diesem Augenblick niemand in Deutschland hätte haben wollen.

Aber keiner hat dem Charismatiker Obama heftiger zugejubelt als die Deutschen.

Das stimmt, aber in der Krise war jedem klar, dass man das Problem nicht mit einem Schlag durch den gordischen Knoten würde lösen können. Merkels kühle pragmatische Krisenregelung ist ihre große Leistung, das haben ihr die Leute abgenommen. Deshalb, so vermute ich, wird sie auch wiedergewählt. Die Frage ist allerdings: Reicht das für die nächste Legislaturperiode? Wenn die Sozialdemokraten mit der Idee spielen, nach zwei Jahren das Handtuch zu werfen und sich mit der Linken zu arrangieren, muss sich Merkel dringend etwas einfallen lassen.

Merkel galt lange als Phantom. Weiß man nun, wofür sie steht?

Ihre erste große Phase war, man hat das fast schon wieder vergessen, als sie zu Beginn ihrer Kanzlerschaft eine postideologische Energiedebatte angestoßen hat. Wir müssen einen Energiemix hinkriegen, so lautete ihre Botschaft, zu dem erneuerbare Energien, ein bisschen Kohle und auch Kernenergie gehören. Die Leute haben damals durchaus verstanden, dass es ein paar Fragen gibt, die gelöst werden müssen, ohne dabei den üblichen ideologischen Mustern zu folgen. Wahrscheinlich ist Merkel die erste Politikerin in der Geschichte der Bundesrepublik, die die Suche nach postideologischen Lösungen zu ihrem Stil gemacht hat. Alle ihre Vorgänger inklusive Schröder entstammten noch den Richtungskämpfen der Nachkriegszeit.

In Ihrem Buch „Die Ausgeschlossenen“ beschreiben Sie das Milieu der Deklassierten, die zu der Überzeugung gelangt seien, „dass es auf sie nicht mehr ankommt“. Was müsste die Politik tun, um diese Gruppe wieder zu integrieren?

Das ist ein Riesenproblem. Die Formen der Koordinierung politischer Fragen kommen immer noch aus der Nachkriegszeit, mit den Formen sozialer Desintegration, wie sie heute um sich greifen, sind sie überhaupt nicht mehr in Einklang zu bringen. Bei der Tendenz, dass unsere Gesellschaft ungleicher wird, wird der Anteil derjenigen, die sich um ihren Anteil gebracht sehen, eher noch wachsen.


– Das Gespräch führte Christian Schröder

Heinz Bude, 55, ist Professor für Soziologie an der Universität Kassel und leitet den Bereich „Die Gesellschaft der Bundesrepublik“ am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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