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Es waren zwei Königskinder. Lucrezia Garcia als Elisabetta, zu ihren Füßen – von Herzschmerz gepeinigt – Massimo Giordano. Foto: Eventpress Hoensch

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Kultur: Spanische Vorkommnisse

Deutsche Oper: Donald Runnicles und Marco Marelli lassen Verdis „Don Carlo“ lodern

Mit der Gedankenfreiheit hatte Philipp II. von Spanien bekanntlich so seine Schwierigkeiten. Schreckliches weiß Friedrich Schiller in seinem „Don Carlos“ darüber zu berichten, wie der König mit Andersdenkenden verfuhr, im fernen Flandern wie auch am eigenen Hofe. Giuseppe Verdis Vertonung des „dramatischen Gedichts“, uraufgeführt in Paris zur Weltausstellung 1867, dagegen fordert, ja erzwingt vom Zuhörer geradezu den freien Flug der Gedanken. Denn diese grand opéra gehört zu jenen heiklen Musiktheaterwerken, bei denen jede Bühnenproduktion immer nur Annäherung sein kann, egal, welche der acht Fassungen der Regisseur nun wählt.

Mag sich im Idealfall akustisch vollständig realisieren lassen, was der Komponist erhoffte, so muss der Theaterbesucher auf der optischen Ebene aktiv Mitarbeit leisten, das Dargestellte weiterdenken, fortspinnen, mit eigener Geisteskraft zurechtmachen. „Don Carlo“ ist eigentlich uninszenierbar. Sich auf das schwere Pathos des Textes einzulassen, fällt den meisten Regisseuren unendlich schwer. Wer die Überzeitlichkeit des Konflikts jedoch auf heutige Zeiten herunterbrechen will, wer die Handlung bei Königs am Küchentisch spielen lässt, wie Philipp Himmelmann an der Staatsoper, macht das Stück klein. Konventionelle Lösungen ohne differenzierte Personenführung – wie das Rumstehtheater zwischen überdimensionalen Skulpturen, das Hugo de Ana 1992 an der Deutschen Oper angeboten hat – mündet hingegen in Langweile.

So gesehen ist der nahezu einhellige Jubel, der am Sonntag nach der Premiere von Marco Arturo Marellis „Don Carlo“- Deutung in Charlottenburg ausbricht, gut zu verstehen. Mehr Atmosphäre, eine größere szenische Dichte ist kaum möglich bei einer Produktion, die der Musik die Hauptrolle nicht streitig machen will. Marelli ist einer jener Bühnenbildner, die sicherheitshalber das Inszenieren gleich noch selber übernehmen. Er denkt räumlich, weniger analytisch, die Beschaffenheit seiner imaginierten Orte bestimmt das szenische Arrangement. Für die Deutsche Oper hat er einen zum Zuschauerraum hin offenen Kubus geschaffen, dessen Oberflächen je nach Lichteinfall mal metallisch glänzen, mal wie windgegerbtes nordisches Holz wirken. Weil alle Macht in Escorial von der Kirche ausgeht, sind die Seiten des Quaders jeweils von griechischen Kreuzen durchschnitten. Alle Elemente lassen sich einzeln bewegen, können also Szene für Szene neu arrangiert werden, ob als Kloster, königliches Schlafzimmer oder öffentlicher Platz. Hier sorgt Marelli für Bewegung – alles Weitere, wie gesagt, muss der Zuschauer imaginieren.

An der Musik aber kann sich die Fantasie an diesem Abend leicht entzünden. Donald Runnicles, der Generalmusikdirektor des Hauses, hat das große Repertoire zur Chefsache erklärt. Neben Wagner liegt ihm die Gattung der grand opéra am Herzen, jene im Paris des 19. Jahrhunderts gepflegte Ausstattungsoper mit den großen Chortableaux, zu der ja auch „Don Carlo“ gehört. Nach Berlioz „Les Troyens“ zeigt Runnicles nun erneut, wie souverän er Massen koordinieren kann. Die dramatischen Momente haben Wucht, scharfe Kontur und machen entsprechend Effekt. Ebenso aber kann Runnicles auch très charmant sein, mit vielen feinen Details für die Tändeleien der Hofdamen in der Schleier-Szene. Lediglich bei der Begleitung der Solisten vermisst man im Orchestergraben manchmal die Dringlichkeit, den Feueratem, mit dem oben auf der Bühne um Liebe und Tod, um Schuld, Sühne und Vergebung gerungen wird.

Gleich ein halbes Dutzend Ausnahmesänger verlangt „Don Carlo“, und sechs große Stimmen kann die Deutsche Oper tatsächlich auch aufbieten. Klangschön und technisch tadellos gestaltet Roberto Scandiuzzi „Sie hat mich nie geliebt“ – und doch mag man nicht so recht Mitleid haben mit diesem König Philipp, der den ganzen übrigen Abend so staatsmännisch umherstapft. Rhetorisch richtig spannend ist aber die Szene zwischen Philipp und dem Großinquisitor (gar nicht so böse: Ante Jerkunica).

Trotzdem sind die Guten an diesem Abend die Besseren. Wobei auch hier partiell wieder individuelle Mitarbeit zwecks Illusionaufbau gefragt ist. „Opera ain’t over till the fat lady sings“, sagt man in Amerika gerne. Lucrezia Garcia, kurzfristig für Anja Harteros als Elisabetta eingesprungen, allerdings kann mit einer jener raren Stimmen aufwarten, in der sich Jugendfrische und dramatische Attacke faszinierend verbinden. Hauchzartes Piano, Durchschlagskraft und ein tiefes Register, das direkt ans Herz greift – so klingen Engel, die in Abgründe geblickt haben. Schauspielerisch überbegabt aber ist sie nicht.

Hart an der Grenze zur Ironie auch Prinzessin Ebolis Fluch auf die eigene Schönheit: Hünenhaft wirkt Anna Smirnova mit der üppigen Rothaarperücke, im bodenlangen grünen Kleid, mit Glitzerschmuck zurechtgemacht wie eine Madame Pompadour für die Anneliese-Rothenberger- TV-Operettenshow (Kostüme: Dagmar Niefind) – doch was für eine Leidenschaft, was für ein Furor, welche Glaubwürdigkeit liegt in dieser Stimme bei der Selbstanklage im 4. Akt!

Boaz Daniel ist ein Posa, der nicht wankt. Selbst wenn ihm das Kunstblut übers Hemd rinnt, steht er fest mit beiden Beinen auf der Bühne, formt mit prachtvollem, voluminösem Bariton weiter edle Gesangslinien bis zum letzten Ton. Der Einzige, der hier wirklich spielen will, ist Massimo Giordani. Weil er schlank und beweglich ist, gutaussehend auch, ein wahrer Bilderbuchitaliener mit hellem, kernigem Tenor. Im Freundschaftsduett reißt er darum auch seinen Posa mit, wenn sie Arm in Arm ihr Jahrhundert in die Schranken fordern.

Freiheit, heißt es, ist immer die Freiheit des Andersdenkenden. Man mag anders denken über diesen „Don Carlo“, einen stärkeren interpretatorischen Zugriff vermissen. Man kann sich aber auch frei fühlen, einfach nur die ganz großen Gefühle der ganz großen Oper zu genießen.

Weitere Aufführungen am 26. und 28. Oktober sowie 2., 9. und 12. November.

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