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"Spex" entdeckt das Theater: Schlenker in neue Gefilde

Die Pop-Zeitschrift entdeckt das Theater

In ihrer September-Ausgabe wagt die schon immer schwer theorieanfällige Popkultur-Zeitschrift „Spex“ (146 S., 5,50 €) einen überraschende Schlenker in neue Gefilde. Statt Musiker zu interviewen, rückt sie vier prominente Theaterkünstler ins Scheinwerferlicht. René Pollesch, die Regisseurin Monika Gintersdorfer und die Autorin Helene Hegemann geben Auskunft über ihre Schreibstrategien, ihre Produktionsweisen und ihr skeptisches Verhältnis zu Begriffen wie denen der guten alten Authentizität oder des Originalgenies. Der Theaterberserker Christoph Schlingensief ist gestorben (siehe Seite 3), das „Spex“-Interview ist nun sein letztes Gespräch geworden.

Die alte Bewegung, mit der die Theater Anschluss an die Pop-Kultur suchen, scheint sich umzudrehen. Jetzt saugt das Zentralorgan der deutschen PoptheorieFraktion aus den Sumpfblüten des Theaters neuen Nektar. Sei es zum Distinktionsgewinn, sei es, weil das Theater inzwischen in Teilen so hip ist wie die Darkrooms im Berghain. Und das nicht nur, weil vom Deutschen Theater bis zum Staatsballett schon allerlei HochkulturKünstler im Techno-Club aufgetreten sind, weil Peaches und Gonzales im HAU Konzerte geben, weil Schorsch Kamerun von der Diskurs-Punkband Goldene Zitronen im Zweitjob Theaterregisseur ist oder weil Michael Thalheimer im DT in „Faust 2“ eine Drogeneinnahme mit Deep Purples „Child in Time“ unterlegt.

Auch der Theorietransfer vom Pop in die Theaterkritik ist etabliert, seit Diedrich Diederichsen in „Theater heute“ das Instrumentarium der Popkritik zur Analyse des Bühnengeschehens verwendet. Adornos Diktum, wonach Musikkritiker, die außer von Musik von allem anderen nichts verstehen, letztlich auch von Musik nichts verstehen, gilt auch fürs Theater.

So liest man die Interviews zunächst als Symptom. Nachdem das Theater den Pop für sich fruchtbar gemacht hat, macht die Poptheorie das jetzt genauso mit dem Theater. Auch wenn die Gespräche manchmal ziellos dahinschlenkern, sorgt der Spielfeldwechsel für hübsche Irritations- und Erkenntnismomente. Zum Beispiel, weil das Scratchen, Loopen und Remixen fremden Materials, das Helena Hegemann anlässlich ihres Buchs „Axolotl Roadkill“ zum Vorwurf gemacht wurde, im Pop seit Ewigkeiten etabliert ist. Oder weil das Misstrauen gegenüber einer angeblich echt gefühlten Authentizität, an der sich René Polleschs Theater so virtuos und lustig abarbeitet, zum Pop gehört wie der Silberflitter zu T. Rex und der androgyne Glamour zum Glamrock.

Was im Theater noch für schwerste Irritationen sorgt, die Annahme, dass jedes vermeintlich unschuldige Gefühl, jede als authentisch, also unhinterfragbar behauptete Sprecherposition selbstverständlich den Mustern sozialer Konstruktion und Konditionierung folgt, ist im „Spex“-Kontext Theorieschnee von vorgestern. Spätestens seit Diederichsen und Co. in den achtziger Jahren in der „Spex“ die Zumutungen der Rock-Authentizismen samt der testosteronschwitzenden GitarrenEndlos-Soli zugunsten von Ironie, uneigentlichem Sprechen – eben: Pop – in die Tonne getreten haben, sind diese Schlachten geschlagen.

Diese Diskussion setzt sich bruchlos fort, wenn Pollesch in der „Spex“ das Theater als Ort der Lügen feiert: „Das Theater selbst ist in jedem Moment Lüge. Das Tolle daran ist aber, dass wir das genau wissen. Mit dieser Errungenschaft, die dem Medium Theater zugrunde liegt, wird meistens leider überhaupt nicht gearbeitet.“ Die dampfende Männlichkeit, die ungebrochen klischeeseligen Herzensergießungen, das frei flottierende Kunstgewerbe im schlechten Theater von Kriegenburg bis Peymann, also das, wozu Schlingensiefs und Polleschs Theater im schönsten Kontrast stehen, wirken da nur noch wie ein rührender Anachronismus.

Das Gegenteil solcher selbstgewisser, stupider Routinen ist Schlingensiefs Kunst der Selbstgefährdung und offenen Suchbewegung, über die er im „Spex“-Interview spricht: „Die Stille der Nacht, das ist die richtige Kulisse zum Schreiben. (...) Es war immer ein sehr befreiender Augenblick, nachts zu realisieren: endlich Ruhe, keiner um mich herum, ich kann loslegen.“ Das hat er getan, 49 Jahre lang. Peter Laudenbach

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