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Kultur: Spielen, bis der Arzt kommt

Aufregendes Debüt aus Frankreich: Géraldine Bajards „La lisière – Am Waldrand“

Ist hier irgendjemand krank? Nicht wirklich. Die mal 14-, mal 16-jährigen Mädchen, die wie 18 aussehen, bestellen zwar regelmäßig spätabends den hübschen neuen Landarzt namens François (Melvil Poupaud) ans Bett. Aber der kann beim besten Willen nichts finden. Nichts Ernstes, beruhigt er die Eltern, die im Türspalt stehen, allenfalls eine tiefe Traurigkeit. Für die gibt es erstens einen Grund, den alle kennen. Und zweitens sollte sie, abrakadabra, bald vergehen.

Ist hier irgendjemand gesund? Nicht wirklich. Die Frauen, Mütter dieser Jugendlichen, sind allesamt von schöner, marmorn-anämischer Blässe. Die Männer, sofern sie mächtig sind wie der örtliche Siedlungs-Oberinvestor namens Sam (Hippolyte Girardot), haben etwas überdreht Gutgelauntes, oder sie machen sich dünne. Und die Jugendlichen, ja, kräftig sind sie und offenbar ganz ohne Schlafbedürfnis, schließlich treiben sie sich allnächtlich mit Taschenlampen rudelweise im Wald rum. Aber gesund? Gesund geht anders.

Ein seltsames Biotop ist die Siedlung „Hauteurs de Beauval“, die bereits im Namen eine Unvereinbarkeit – von Tal und Höhe – auf das Schillerndste vereint. Eines frühen Abends, als so einiges noch im Lot scheint, stehen Sam und François vor einem Modell mit all den Einfamilienhäuschen und dazwischengestellten playmobilähnlichen Figuren. Für einen Augenblick ist über der Szene ein Hauch von „Truman Show“: François vielleicht das zoologische Beobachtungsobjekt – und Sam der Gott, so allmächtig, dass er sich sogar schamlos zu erkennen geben kann?

Ungute Gefühle, die da aufblitzen im Taschenlampenlicht der Kinoerinnerungen, Assoziationen an „Blair Witch Project“ oder auch „Funny Games“, aber gleich vergehen sie wieder, wie die Krankheiten, die es heute und hier bestimmt nicht gibt. Denn der Film „La lisière – Am Waldrand“ ist sich selbst genug: fremd, leise, böse. François ist der Außenseiter, der sich in diese Fremde hineinverliert mit Haut und Haar, und die Ureinwohner von „Hauteurs de Beauval“ sind selber bloß hergepflanzte Ungeheuer, die sich diesen Fremden gänzlich einverleiben.

Es ist eine flirrend sexualisierte Welt von Verlorenen, die Géraldine Bajard in ihrem ersten Langspielfilm nach eigenem Drehbuch so souverän wie aufregend inszeniert. Hier die Jugendlichen, die sich sportlich im Spielerkreis zu ihren aggressiven Knutsch- und mörderischen Lockvogel-Mutproben am Waldrand verabreden; dort die Erwachsenen, denen die mühevoll gezähmte Alltagsgeilheit fühlbar den Atem nimmt, während sie an Wohnungstüren voreinander stehen. Zwischen beiden Welten, die sich kalt umlauern, gibt es keinen Raum. Genau dort aber sucht François sich seinen Platz.

Chef im Ring der nervtötend mopedbetriebenen Jugendclique ist Cédric (Phénix Brossard): Micky Jaggerchen am Rande der Welt, dem die Mädchen und die Jungs bedingungslos ergeben sind. Allein Claire (eine Entdeckung: Alice de Jode) wagt, in der Tarnung äußerster Gefühlsgewöhnlichkeit, einen Anflug von Leidenschaft, indem sie ihrem Schwärmen für François freieren Lauf lässt – oder übt sie auch damit bloß etwas Gemeinschaftsdienliches ein? Wer sie fragen wollte, bekäme nur ein Sätzchen hingespuckt. Überhaupt: Gesprochen wird unter diesen aus der Kindheit ins Irgendwohin gefallenen jungen Leuten wenig. Und auch die Eltern-Zombies machen es und alles kurz.

Bleiben die Bilder (Kamera: Josée Deshaies). Sie sind es, die sprechen. Mit sparsam präzisem Blick, der sich selten Abstecher gönnt. Ein Mann auf einem Hochhausbalkon, der in ein fernes Fenster zu einem Paar hinüberschaut: Das könnte ein anderes Wort für Abschied sein. Zwei Paare, ein junges, ein nicht mehr ganz junges, die sich jagend und balgend auf dem Waldboden verlieren, bis eine Stille über sie kommt: noch zwei Abschiede. Oder der Mann, der nachts wieder und wieder im immer selben Wald unterwegs ist, mit dem Auto und allein.

Babylon Kreuzberg, Hackesche Höfe und Kant (alle OmU)

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