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Der Berliner Shorty Mährländer, hier mit einem Foto von sich selbst, gehörte dem „Sozialistischen Patientenkollektiv“ (SKP) an.

©  Berlinale

„SPK Komplex“ im Forum: Gegen Kapitalismus und Irrenhaus

Zwischen Reform und Radikalisierung: Gerd Kroskes Doku „SPK Komplex“ erinnert an das antipsychiatrische Experiment "Sozialistisches Patientenkollektiv".

Von Caroline Fetscher

Carmen Roll erinnert sich bis heute, wie befreiend es war, mit diesem Arzt zu sprechen, damals, 1971. Wenn es ihr gut dabei gehe, lesbisch zu sein, hatte Wolfgang Huber gesagt, dann sei „doch alles in Ordnung“. Damals war das alles andere als selbstverständlich. „Es war unheimlich gut, was er machte.“ Carmen Roll war Anfang zwanzig und studierte Sozialpädagogik in Heidelberg, als sie dort zu der Gruppe stieß, die Wolfgang Huber im Jahr davor gegründet hatte: das Sozialistische Patientenkollektiv, kurz SPK.

Ziel der zeitweise bis zu 500 Mitglieder des SPK war zunächst die Auflösung der Psychiatrie. Ihr Leitmotiv lautete: „Das System macht uns krank!“ Ihr Unglück war das Abdriften einiger Aktivisten ins Milieu der RAF, was den Ruf des humanen Experiments nachhaltig beschädigte. Dieser legendären Gruppe und ihrem Echo spürt der Regisseur Gerd Kroske nach und macht mit seinem Dokumentarfilm „SPK Komplex“ aus dem großen, drastischen Stoff ein kluges, ruhiges Kunstwerk. Kroskes filmischer Erzählweise gelingt etwas Seltenes: die Fusion von Intuition und diskretem Respekt mit konkreter, akribischer Recherche. Großartig ist auch der Blick der Kamerafrauen Susanne Schüle und Anne Misselwitz für Szenen und Details, die wie magisch Stimmungen wecken.

Der Film zitiert wilde Flugblätter, erschütternde Gerichtsprotokolle und Briefe. Vor allem aber sprechen Zeitzeugen wie Carmen Roll, die in Italien lebt und zum ersten Mal über ihre Erfahrungen berichtet. Bürgerliche Zeitgenossen erzählen heute, bei Vogelzwitschern auf der Terrasse, am Esstisch vor dem Bücherregal oder am Ruder eines Sportbootes, von Revolten, Aktionen, Razzien und Haft. In ihrem Gedächtnis tauchen sie nach dem Tumult und den immensen Hoffnungen von damals, als alles möglich schien. Kroskes Stärke ist, ihnen ihre Zeit zu lassen, auch zwischen ihren Sätzen, während nur Gesicht und Gesten weiterreden.

Man las zusammen Michel Foucaults „Wahnsinn und Gesellschaft“

Oft geht es in den Geschichten um Huber, den charismatischen Assistenzarzt am Uniklinikum Heidelberg, mit dem das SPK anfing. Aber Huber selber will nichts mehr dazu sagen. Als er 1976 aus der Haft entlassen wurde, setzte er sich aus Deutschland ab, Adresse unbekannt. Gewiss scheint nur, dass er noch lebt. Der 1935 geborene Mediziner hatte die katastrophalen Zustände der Psychiatrie, besonders für Kassenpatienten, kennengelernt und wollte nicht länger Komplize sein der Behandlungen mit Elektroschocks, der Stationen mit den ans Bett fixierten, sedierten Patienten. Er wurde entlassen und nahm etwa 50 Patienten mit sich, um in einem besetzten Haus zu leben, als SPK. Patienten sollten sich selber organisieren, hierarchische Unterschiede gab es nicht. Man las zusammen Michel Foucaults „Wahnsinn und Gesellschaft“, Wilhelm Reich oder den italienischen Psychiatriereformer Franco Basaglia, Huber selber schleppte gern Hegel-Bände an. Einzelsitzungen nannte das SPK „Einzel-Agitation“, Gruppensitzungen hießen „Gruppen-Agitation“.

All das war skandalös, die breite Öffentlichkeit beargwöhnte das Experiment, „Es darf keine therapeutische Tat geben“, erklärte Huber kategorisch, „die nicht zuvor klar und eindeutig als revolutionäre Tat ausgewiesen worden ist.“ Die Mega-Therapie aller wäre „die Abschaffung der krankmachenden privatwirtschaftlich-patriarchalischen Gesellschaft“. 1972 schrieb Jean-Paul Sartre ein Vorwort zu der Agitationsschrift „Aus der Krankheit eine Waffe machen“. Sartre bestätigte: „Jede Sorte Therapie, die ja ohnedies nur eine so genannte ist, ist in Wirklichkeit Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, sonst nichts.“ Der Gegendruck war massiv, Huber sollte die Approbation entzogen werden und das SPK radikalisierte sich. „Wir fordern 500 Waffenscheine für die Patienten!“, forderte ein satirisch überspitztes SPK-Flugblatt. Ein Slogan verhieß: „Kapitalismus und Irrenhaus – beides löscht der Volkskrieg aus!“ Bei Huber im Haus war ein Gast gesehen worden, der eine Maschinenpistole „auf den Tisch knallte“, zwei SPK-Mitglieder wirkten mit an der Geiselnahme in der Deutschen Botschaft Stockholm. Das Projekt war „abgerutscht“, sagt der Physiker und Mediziner Ewald Goerlich. Manche haben bis heute Angst, über diese Zeit zu reden, bedauert Gerd Kroske: „Es gab viele Absagen.“

Die RAF wandte sich vom SPK ab

Wolfgang Huber und seine Frau Ursula wurden im Dezember 1972 wegen „Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, Sprengstoffherstellung und Urkundenfälschung“ verurteilt. Kurt Groenewold, früherer Strafverteidiger von SPK-Mandanten, erläutert im Film, dass die Urteile nur möglich waren, da Taten summarisch allen in der Gruppe zugerechnet wurden. Kroske befragte auch den von SPK-Sympathisanten geschmähten Richter Gohl. An seiner Sicht hat sich kein Jota geändert. Man sah die „Grundordnung der Bundesrepublik“ durch das SPK bedroht, durch „die paar Hanseln“, belächelt eine Anwältin die Paranoia des Staates von damals.

Bei der RAF indes hatte man vom Patientenkollektiv genug. In einem Brief aus Stammheim schrieb Gudrun Ensslin 1972: „Jeder von uns hatte nicht zu wenig, sondern zu viel SPK in sich, was die vergangenen Jahre betrifft.“ Wenige Zellen weiter saß Wolfgang Huber. Er interessierte sie nicht mehr.

Die deutsche „Anstalt“, ob Haftanstalt, Besserungsanstalt oder Irrenanstalt, ließ an vergitterte Fenster denken, an kahle Flure, nach Kohl riechende Großküchen und strikte Zeitregimes. Seit den Tagen des SPK wurde vieles reformiert. Doch bis heute gibt es Zwangseinweisungen in die Psychiatrie, Fixierungen und erzwungene Medikamentierungen, was kritische Juristen als Verstoß gegen die Menschenrechte einstufen. Im Fernsehkabarett „Die Anstalt“ lebt das Wissen von der Gesellschaft als Irrenhaus ironisch fort. Dass das soziale Umfeld Individuen krank machen kann, das immerhin gilt heute als Allgemeinwissen.

23.2., 18.30 Uhr (Delphi Filmpalast), 25.2., 17 Uhr (Arsenal 1)

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