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Spree-Porträt: Das Gedächtnis des Wassers

Die Spree wird verkannt, sagt Gerd Conradt. Sieben Jahre filmte der Regisseur die „Sinfonie eines Flusses“.

Die Ignoranz muss schwer zu ertragen sein. All diese Berliner, die sich einschiffen auf Spreeboten, um sich die Häuser am Ufer anzusehen, die schönen Fassaden, die eleganten Brücken – aber nicht den Fluss. Keinen Gedanken verschwenden sie an diesen Strom, der um uns herum- und durch uns hindurchfließt, dessen Wasser wir trinken, mit dem wir uns waschen, aus dem wir zu 70 Prozent bestehen. „Wenn wir weinen, weinen wir Spreewasser. Wir sind die Spree“, sagt Gerd Conradt beschwörend.

„Darf’s noch etwas sein?“, flötet die Kellnerin betörend. Die „Capital Beach Bar“ ist mäßig gefüllt, immer wieder knallen einzelne Regentropfen auf die Metalltische, im Spreewasser vor dem Hauptbahnhof spiegelt sich ein wolkendurchstürmter Spätsommerhimmel. Conradt hebt den Blick, verweilt in den Wolken, verwandelt sie sehend in Teile des Flusses: die Bindeglieder zwischen Quelle und Mündung. Tonnen von Wasser ziehen da durch den Himmel, sagt Conradt, sie suchen ihren Fluss. Wissenschaftler seien in der Lage, die Wasserkristalle verschiedener Flüsse zu unterscheiden, Spreewasser sei nicht gleich Elbwasser, der Rhein anders beschaffen als die Havel. Warum also sollte es nicht stimmen, was Conradt einen Mann im Spreewald sagen hörte: dass das Wasser sich über den Umweg der Wolken seinen Weg zurück zum Ausgangsort bahne, dass es zurückkehre an die Quelle? Und liegt dann wirklich so fern, was der weise Spreewaldianer noch gesagt hat: dass Wasser ein Gedächtnis hat?

Wer zu lange dem Fluss lauscht, verliert die Achtung vor den Menschen. Gedächtnislose Flussverächter! Sieben Jahre lang hat Gerd Conradt an seinem Film „Sinfonie eines Flusses“ gearbeitet. Was ihn inzwischen am meisten wurmt, ist, dass vier von fünf Berlinern nicht einmal wissen, wo der Hauptstadtfluss entspringt. Conradt erzählt die alte sorbische Sage, derzufolge einst der Riese Sprenik zur Verteidigung seiner Stadt Budisin, des heutigen Bautzens, Pfeile und Bogen anfertigte. Um die Waffen zu testen, schoss er ein paar Pfeile in Richtung der Oberlausitzer Berge ab, wo sie später von Menschen geborgen wurden. Beim Ausgraben der Riesengeschosse, so will es die Legende, stießen die Menschen an mehreren Stellen auf Wasser, das sich in Bächen zu einem Fluss vereinte. Zu Ehren des Riesen nannten die Menschen den Fluss fortan Spree.

Vor sieben Jahren ist Conradt zum ersten Mal nach Bautzen gefahren, zur Spreequelle. Vorher hatte er die Filmarchive der Republik durchwühlt – und festgestellt, dass die Spree, cineastisch gesprochen, „ein vollkommen unterbelichteter Fluss ist“. Nicht einen einzigen Film gab es, der der Spree von der Quelle bis zur Mündung folgte. Der Rhein, natürlich, der sattsam sinngetränkte und durchmythologisierte Rhein, über den gab es Filme über Filme. Aber die Spree? Sie sei nun mal kein langer Fluss, sagt Conradt, und auch kein voluminöser, jedenfalls nicht nach landläufiger Meinung. In Wirklichkeit sei sie einfach verkannt. „Wo die Spree in die Havel mündet“, sagt Conradt, „ist die Havel ein deutlich kleinerer Fluss als die Spree. Und wo die Havel in die Elbe mündet, ist die Havel der größere Fluss. Wo ist da die Gerechtigkeit? Wenn man ehrlich ist, liegt Hamburg an der Spree.“

Für den Film hat Conradt sich trotzdem auf das beschränkt, was landläufig als Spree bezeichnet wird: die 380 Kilometer lange Wasserstrecke zwischen der Bautzener Quelle und der Havelmündung. Ihr ist der Berliner Filmemacher über sieben Jahre hinweg stromauf und stromab mit der Kamera gefolgt, um die „Sinfonie eines Flusses“ zu filmen. Geplant war ursprünglich ein Film, der neben aktuellen Aufnahmen alte Dokumentarszenen und Spielfilmausschnitte zu einer Montage verstrickt, die komplett auf Sprecherkommentare verzichtet und stattdessen allein von einer eigens komponierten Flussmusik getragen wird – angelehnt an Walther Ruttmanns legendären Dokumentarfilm „Berlin: Sinfonie einer Großstadt“ von 1927. Das erschien den Geldgebern – dem rbb, der Mitteldeutschen Medienförderung und dem Medienboard Berlin-Brandenburg – zu gewagt, so dass der endgültige Film nun in zwei Teile zerfällt. In einem dokumentarisch gehaltenen „Ersten Satz“ übernimmt Anna Thalbach die Rolle der Sprecherin, daneben kommen diverse Spreeanrainer zu Wort: Flussfischer und Flussforscher, Wassersportler und Spreephilosophen. Auch Götz George tritt hier auf, als Kronzeuge spreeinspirierter Bluts-, Wasser- und Wahlverwandtschaften: Schon sein Vater Heinrich George hatte seinerzeit in einem Spree-Film mitgespielt, dem Vorkriegsdrama „Schleppzug M 17“. Der Sohn setzte diese mimische Traditionslinie fort, als er 1957 in „Alter Kahn und junge Liebe“ auftrat.

Den zweiten Satz des Films bildet dann jene Sinfonie, der Conradts eigentlicher Impuls galt: eine im Wortsinne ausufernde Bildmontage, die mit der steingefassten Quelle im Oberlausitzer Bergland beginnt und sich von dort ihren mäandernden Weg nach Berlin bahnt. Mal über, mal unter der Wassernarbe folgt die Kamera dem Lauf des Flusses, im freien Flug, auf Kahnhöhe oder im Tauchgang, bei Tag und bei Nacht, quer durch alle vier Jahreszeiten. Von den Ufern entfernt sich Conradt nur da, wo auch die weitere Landschaft eine Verbindung mit dem Fluss eingeht, wie im Falle der spreewassergespeisten Braunkohlereviere in der Lausitz. Lange verweilt der Film in den verzweigten Wasseradern des Spreewalds, der eindrücklichsten Landschaft auf dieser filmischen Reise, bevor er jenseits der brandenburgischen Wasserkanäle Berlin erreicht, die Preußenmetropole mit ihrem militärisch geprägten Schifffahrtserbe.

Unterlegt ist dieses visuelle Rauschen mit einer eigens für den Film erarbeiteten und von der Dresdner Philharmonie eingespielten Sinfonie, für die Conradt den Komponisten Karsten Gundermann verpflichtete. Auch diese Musik folgt dem Lauf des Flusses: Sie beginnt im Quellgebiet mit slawischen Anklängen, greift zum Spreewald hin sorbisches Liedgut auf, zitiert in Berlin preußische Militärmusik und Hanns Eisler. Um Film und Musik möglichst organisch zu verknüpfen, schnitt Conradt sein Rohmaterial „auf Herzschlag“: Der visuelle Rhythmus folgt einem Vier-Viertel-Takt mit mittlerer Pulsgeschwindigkeit. Erst auf Grundlage dieses geschnittenen Rohfilms komponierte dann Gundermann seine Musik, die sämtliche Bewegungen des visuellen Bilderrhythmus’ musikalisch nachvollzieht.

Kaffeetassengeklapper, Kindergeschrei, Conradts Blick sinkt aus den Wolken, er starrt ins Wasser, er denkt an Heraklit. Man steigt nicht zweimal in den gleichen Fluss? Widerlegt! Alles ist im Fluss, ja – aber es ist immer derselbe Fluss! Die Spree ist die Spree ist die Spree. Funkelnd spiegelt sie ihr himmlisches Wassergedächtnis, tonnenschwer hängen die Wolken im Himmel, nur ab und zu explodiert scheppernd ein Tropfen auf dem Metallrund des Tischs. Warum nur, fragt Conradt, haben wir Berliner kein Gefühl für unseren Fluss? Warum nehmen wir ihn nicht wahr, warum sind wir nicht gut zu ihm? Als er an der Mündung ankam, mit seinem Kameramann, der im Neoprenanzug auf den Grund tauchte, waren beide schockiert. Das Flussbett, das bis kurz vor Berlin malerischen Herbstlandschaften geglichen hatte, mit strömungsverwehter Fauna in sattem Rot und Gelb, war auf dem Weg durch die Hauptstadt zur Marslandschaft mutiert: ein grünlich-grauer Schlammpfad, konturlos, leblos, gedächtnislos. Triste Bilder, mit denen auch Conradts Spree-Sinfonie ausklingen muss.

„Die Spree – Sinfonie eines Flusses“, die heutige Premiere im Berliner Radialsystem ist leider ausverkauft.

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