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Kultur: Sprich, geteilte Erinnerung

Egon Bahr im Gespräch mit Peter Ensikat.

Treffen sich zwei ältere Herren und erzählen von früher. Das klingt nicht gerade nach spannender Unterhaltung. Doch Egon Bahrs und Peter Ensikats „Gedächtnislücken“ sind genau das: kurzweilig, anregend, vergnüglich und teilweise im besten Sinne lehrreich. Denn anders, als der merkwürdige Titel des Buches vermuten lässt, erinnern sich die beiden Deutschen noch sehr gut daran, wie es damals in der Bundesrepublik und der DDR so war.

Der eine (Bahr, Jahrgang 1922) schildert die Nachkriegsgeschichte aus Sicht eines gestaltenden, planenden Beraters an der Seite Willy Brandts. Der andere (Ensikat, Jahrgang 1941) erlebte diese Zeit aus einer ganz anderen Perspektive: der des Intellektuellen, des bekannten ostdeutschen Kabarettisten, der sich die Aufgabe gestellt hatte, dem Regime der Ulbrichts und Honeckers etwas satirisch Komisches abzugewinnen. Entsteht daraus so etwas wie eine Gesamtschau auf ein Land? Ja, den beiden Großmeistern der Erinnerungsarbeit gelingt das auf anschauliche Art und Weise. Dabei kommt dem Leser zugute, dass sich Bahr und Ensikat seit Langem kennen und schätzen. Sie brauchen sich nur Stichworte zuzurufen, um den Erinnerungen freien Lauf zu lassen: Nazizeit und Krieg, Eiserner Vorhang und Ost-West-Konflikt, der Aufstand vom 17. Juni 1953 und Mauerbau, Wiedervereinigung und Wendezeit – ein prägnanter, weil einprägsamer Überblick über die jüngere deutsche Geschichte.

Diese Tiefgründigkeit zeichnet das Buch aus – und der offene Umgang mit den eigenen Befindlichkeiten. Als Egon Bahr berichtet, Washington, Paris, Moskau und London hätten sich mit der Teilung Berlins, Deutschlands und Europas bereits frühzeitig abgefunden, erwidert Peter Ensikat: „Umso ärgerlicher war für uns dieses ewige Gerede von der deutschen Einheit. Diese Sonntagsreden, die auch Adenauer oft gehalten hat. Wir merkten schon lange, dass das nur Gerede war, und fühlten uns aufgegeben.“

Ehrlich und zugleich amüsant präsentiert Bahr sein Insiderwissen, etwa zum berühmten Berlinbesuch von Präsident J. F. Kennedy. „Der Kennedy kam, und ich war bei den wenigen Leuten, die bei Brandt im Arbeitszimmer waren, zusammen mit Adenauer, Kennedy und seinen engsten Begleitern. Die da draußen haben gedacht, jetzt wird Weltpolitik gemacht. Wurde aber nicht. Jedenfalls nicht von Adenauer. Der las wirklich und wahrhaftig das ,Neue Deutschland’ und bekam offenbar nichts mit.“ So banal kann Historisches daherkommen. Wie gut, dass sich Bahr und Ensikat noch an diese alten Zeiten erinnern können. Denn in denen wurde Geschichte gemacht. Und die beschäftigt uns bis heute.

Egon Bahr, Peter Ensikat: Gedächtnislücken. Zwei Deutsche erinnern sich. AufbauVerlag, Berlin 2012. 204 Seiten, 16,99 Euro.

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