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Kultur: Staatsende, letzter Akt

Die Idee ist so einfach, so umwerfend, dass kein Mensch von allein darauf kommt: Ex-DDR-Häftling wird elf Jahre nach dem Fall der Mauer entlassen. Er fährt aus dem Gefängnis Brandenburg direkt nach Berlin.

Die Idee ist so einfach, so umwerfend, dass kein Mensch von allein darauf kommt: Ex-DDR-Häftling wird elf Jahre nach dem Fall der Mauer entlassen. Er fährt aus dem Gefängnis Brandenburg direkt nach Berlin. Er ist Berliner, Ost-Berliner. Zum letzten Mal war er im Frühjahr 1989 zu Hause. Ein neuer Simplicissimus im Hightech-Zeitalter.

Auch Hannes Stöhr, dem Regisseur, wäre eine solche Geschichte nie eingefallen. Die besten Geschichten müssen einem begegnen. Oder man muss Freunde haben, bei denen sie einfach vorbeikommen. Mitarbeiter der "Freien Hilfe e.V." vielleicht, einem Verein zur Betreuung Haftentlassener in Berlin. Dort meldete sich eines Tages ein Mann mit seinem alten DDR-Personalausweis. Ein bisschen Ostgeld besaß er auch noch. Schließlich kommt man genau mit dem Betrag raus, mit dem man reinkommt. Ein paar Verlässlichkeiten muss es geben, erst recht in Umbruchzeiten. Aber die BVG-Automaten erkennen die Scheine mit den Marx-Köpfen sofort.

Liegen die besten Geschichten wirklich auf der Straße? Hannes Stöhr hat die seit DDR-Zeiten real existierenden Häftlinge des Brandenburger Gefängnisses besucht. Auch sie haben, wie Martin Schulz im Film, vom Mauerfall aus dem Radio erfahren. Und die Gefängniswärter wurden aufmerksam auf das Staatsende, 1. Akt, durch den Lärm, den sie machten. So fängt "Berlin is in Germany" auch an. Einfach ein wirkliches Leben erzählen! Aber Stöhr gab den Plan bald auf. Das waren keine Simplicissimus-Geschichten, die er hörte, das waren traurig gekenterte Lebensreisen. Daraus würde nie eine Komödie werden. Im Jahre Zehn des geeinten Deutschlands mit einem Ost-Personalausweis und 300 Ostmark mitten in Mitte zu stehen, ist aber ohne Zweifel ein Komödienanfang. Und das Moment von Unschuld fehlte wohl in diesen Berichten, das Moment von Unschuld, das jeder echte Simplicissimus braucht. Denn er ist doch der Spiegel, in dem wir anderen uns plötzlich erkennen - und unsere Wirklichkeit gleich dazu. Er ist der Nichtselbstverständliche in einer Welt aus Selbstverständlichkeiten. Oder umgekehrt. Es darf nur kein allzu getrübter Spiegel sein, der sowas zeigen soll.

Genau hier liegt das logistische Grundproblem von "Berlin is in Germany". Wie kommt man unschuldig aus dem Knast? Stöhr tat, was er konnte. Zusammen mit Wissenschaftlern und DDR-Justiz-Experten erfand er eine glaubwürdige Tat, für die man im Osten weggeschlossen und im Westen nicht rausgelassen werden konnte und trotzdem in höherem Sinne unschuldig war. Totschlag aus Freiheitsdrang. Simplicissimus Martin Schulz schubst im Frühjahr 1989 einen Hausbuchverwalter, Typus Blockwart, der ihm seine Steigeisen wegnehmen will wegen Republikfluchtgefahr. Wer wollte denn mit Steigeisen über die Mauer? Egal, der Hausbuchverwalter stirbt, und Martin wird verurteilt wegen Mordes.

Im Grunde ist "Berlin is in Germany" voll von dramaturgischen Zumutungen, denn Martins Sohn, den er nie sah, wird bedeutungsschwer noch im Jahre 1989 geboren - und beim ersten Blick auf Martins Ex-Frau ist dem Zuschauer klar, dass ihr neuer Mann nur einen vergeblichen Versuch darstellt, Martin zu vergessen. Aber gibt es etwa keine Ostberliner Kinder, die 1989 zur Welt kamen? Ist nicht jedes Leben eine Summe aus Kinoeffekten, die man unter ästhetischem Maßstab sofort streichen würde? Und überhaupt - es stört nicht. Jörg Schüttauf spielt diesen Martin mit einer Einfachheit, proletarischen Ungeschlachtheit, Direktheit und zärtlichen Zurückhaltung zugleich, für die man nur ein Wort finden mag - das in Kunstdingen höchst naive "wahr".

Wahrheit ist ein Charakteristikum, ohne das kein Simplicissimus besteht. Und so beginnt Stöhrs Spiegellabyrinth wirklich zu funktionieren. Wir erkennen uns im anderen. Dieses Erkennen ist ungefähr das Gegenteil von dem, was man "Sozialkritik" genannt hat. Martin trifft auf seine alten Freunde, allesamt nicht eben glücklicher geworden in den letzten zehn Jahren, aber es ist nichts Vordergründiges und erst recht nichts Thesenhaftes daran. Auch dass die einzigen, die einem Ex-Knastologen (und sei er so rein wie dieser Martin) wirklich helfen können, andere Ex-Knastologen sind - Stöhr will nichts beweisen, nichts romantisieren. Die Selbstverständlichkeit des Absurden: War es nicht vor allem diese Lektion, die schon Grimmelshausens Simplicissimus zu lernen hatte?

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