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Stadtarchiv-Einsturz: Die Schande von Köln

Ein Jahr nach dem Einsturz des Stadtarchivs traut man seinen Augen kaum: An Kölns Ground Zero hatten wir Verwüstung erwartet. Stattdessen zeigt der Tatort die wüste Verkommenheit einer selbstvergessenen Stadt.

„Das historische Gedächtnis der Stadt Köln“, sagt Georg Quander, Kölns Kulturdezernent und früherer Berliner Staatsopernintendant, sei ein „kulturelles Erbe von europäischem Rang“. Mit dem Wort „Gedächtnis“ meint er das vor einem Jahr zusammengestürzte Kölner Stadtarchiv. Was sich am 3. März 2009 gegen 14 Uhr, infolge wohl des skandalumwitterten U-Bahnbaus der Domstadt, mit einer gewaltigen Erderschütterung ereignet hat, wird in der unlängst im Martin-Gropius-Bau eröffneten Ausstellung „Köln in Berlin – Nach dem Einsturz: Das Historische Archiv“ beschworen, mit Dokumenten der Zerstörung und der ersten Rettung. Handelt es sich doch um die „größte Katastrophe im Kulturbereich“ – so bezeichnet es eine Wandschrift gleich zu Beginn der Ausstellung –, „die Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg“ erfahren hat.

Köln in Berlin ist das eine. Aber Köln in Köln? Geht man den guten Kilometer vom Dom durch die von U-Bahnbaustellen durchfurchte Kölner Altstadt südwärts zum Severinsviertel, in dessen Mitte das Historische Archiv mit seinen vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart reichenden Urkunden, Inkunabeln, Handschriften, Nachlässen, Bild- und Tondokumenten bis zu jenem 3. März stand, dann weist zunächst kein Schild den Weg. Hat man nach dem letzten Kaufhaus, Jeansladen, Fastfoodshop endlich die für den Durchgangsverkehr gesperrte Severinstraße erreicht, wird es still und öd, man sieht in einiger Entfernung erste Bauzäune. Doch der Ort, der wohl auch ein Tatort ist, öffnet sich erst mit den letzten Schritten: als eine riesig klaffende Wunde und Wüste. Keine Schuttberge mehr wie auf den Bildern, die nach dem Einsturz um die Welt gingen, nur ein Krater, im Abgrund noch einzelne Bagger, Stützpfeiler, eine Mischung aus Ausgrabungsstätte und Tiefbaustelle.

Weit freilich über das zu vermutende Areal des einstigen Archivs hinaus sind angrenzende, teilweise mit eingestürzte oder gefährdete Gebäude abgerissen worden; die Brache macht den Eindruck, als hätte eine Explosion ein halbes Stadtviertel vernichtet. Es ist Kölns Ground Zero.

Doch wer nicht weiß, was hier eben noch war, der erfährt es hier auch nicht. Am Bauzaun, dort, wo man vom Dom her ankommt, stehen nur einige Blumen, Kerzen, Grablichter von Kölner Bürgern; es gibt etliche handgemalte Plakate, die sich gegen die Kölner U-Bahnbetreiber richten („Es stinkt immer noch nach Pfusch“) oder die mit Zorn und Trauer nur fragen: „Warum?“ Dazu erinnern ein paar an den Zaun geheftete Zettel und Fotokopien mit dem Bild eines Jungen an den beim Einsturz umgekommenen Studenten Kahlil, dessen Freunde und Freundinnen „in Gedanken bei Dir“ sind; und ein Vater, ob von Kahlil oder dem zweiten Toten, dem Bäckerlehrling Kevin, beklagt, dass sein Sohn bis heute „keinen Grabstein“ habe.

Das alles ist rührend. Und bestürzend. Auch in der Berliner Ausstellung wird der beiden Toten nicht namentlich gedacht. Aber es wird mit wunderbaren, bereits nach einem Jahr teilweise kunstvoll restaurierten Exponaten wie der mittelalterlichen Handschrift des „Tristan“-Epos, eines kaiserlichen Schreibens mit dem Siegel Friedrich Barbarossas oder eines Romanbeginns aus der Feder Heinrich Bölls emphatisch beschworen, was noch immer gerettet werden muss: Millionen kostbare, versehrte, oft noch eingefrorene, zerstückelte, verstreute Einzelstücke. Mehr als 300 Millionen Euro braucht die arme Stadt Köln dafür und mindestens 30 Jahre Wiederherstellungsarbeit. Dafür wurde eine „Stiftung Stadtgedächtnis“ gegründet, und der Auftritt in Berlin gilt auch der notwendigen Geldsammlung und dem Appell an die Politik und eine kulturverantwortliche Zivilgesellschaft.

Nichts aber erinnert daran am eigentlichen Ort des Geschehens. Stadtgedächtnis? Verantwortung des Landes Nordrhein-Westfalen? Am Zaun des Kölner Abgrunds existiert auch ein Jahr nach der Katastrophe noch kein einziger offizieller Hinweis. Keine Gedenktafel, was hier war und geschah, kein Hinweis also auch auf die Stiftung und ein Spendenkonto.

Es kommen Touristen aus der ganzen Welt hierher, und wir sehen sie an einem windigen Märztag orientierungslos herumirren wie wir selbst. Wo genau in dieser Wüste stand eigentlich das Archivgebäude, wo war das miteingestürzte Haus, wo starben die beiden Jungen? Im gläsernen Entree des angrenzenden, bis heute evakuierten Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums sitzen ein paar Männer vom Wachschutz; sie sind überrascht, als wir die Tür öffnen, Fragen stellen, und einer holt in einer Plastikhülle eine Fotografie des Unglücks hervor und erklärt einem die Topografie des Horrors. Ist er dazu von der Stadt beauftragt? „Nee“, lächelt er, „die Stadt macht doch nix.“

Wer etwas macht, ist die Gaffel-Kölsch-Kneipe an der Ecke; sie hat mehrere Erinnerungsfotos im Fenster, eine Bürgerinitiative veranstaltet dort Treffen, die Kneipe heißt „Papa Rudi’s“ und sieht ebenso aus. Oder der Zigaretten- und Zeitungsladen daneben (beide zusammen die einzigen Lebenszeichen weit und breit): Auch dort ein paar Fotos, zwei Steine und eine gerettete Türklinke des Stadtarchivs im Fenster, man bietet zur Information ein Buch mit dem Titel „Der Einsturz“ an. Doch das ist gerade ausverkauft. Es sind die Restzeichen einer ohnmächtigen Bürgerschaft und einer im Inneren selbstvergessenen Stadt.

Peter von Becker

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