zum Hauptinhalt

Kultur: Steht die Leitung nach Tauris?

Mutter aller Tragödien: Die Schauspielschule Ernst Busch stemmt die „Orestie“

Wie konnte es zu so etwas kommen? Zur Zeit sind sie bei etwas über fünf Stunden reiner Spielzeit. Zur Sicherheit geht die Premiere schon um vier Uhr am Nachmittag los. „Iphigenie - Orestie - Iphigenie“: sechs verschiedene Stücke von sechs Regisseuren, zusammengehalten von der Verwandtschaft der mythischen Figuren.

„Es ist wie ein Filmabend mit allen Herr- der-Ringe-Folgen“ – und total kompatibel mit den Spielfilmsehgewohnheiten, findet der Regieprofessor Peter Kleinert der Ernst-Busch-Schauspielschule. Dabei ist es tatsächlich die einzige vollständig überlieferte Trilogie der Antike, uraufgeführt 458 vor Christus in Athen: Kindermord, Muttermord, ein Kreislauf von Rache und Wahnsinn, der mit einem Gerichtsprozess endet und der Geburt der Demokratie. Nicht unwichtig. Peter Stein hat vor einem Vierteljahrhundert die Trilogie auf die Schaubühne gebracht – eine neunstündige Legende.

Und deshalb ist das bat-Studiotheater im Prenzlauer Berg seit Januar rund um die Uhr vom Geschlecht der Atriden besetzt. Die Protagonisten verwandeln sich nie mehr ganz zurück in die Berliner Schauspiel- und Regieschüler aus dem 3. Lehrjahr. Niemand kann sich erinnern, dass es schon einmal ein derart großes, inhaltlich zusammenhängendes Projekt in der Geschichte der Schule gegeben hätte. Christina Friedrich nicht, die Regiementorin, und Peter Kleinert, der Regieprofessor auch nicht.

Auf dem Tisch kursiert eine Streichholzschachtel von der „Taverna Polis“, Schönhauser Allee 72a, in pseudogriechischen Lettern. Sie behaupten hier: Zufall. Sie alle gingen durchaus noch woanders essen. Sechs Regiestudenten sitzen hier, die mit 16 Schauspielstudenten an einem Projekt arbeiten. Jeder hat eine Strecke des Atriden-Mythos mit einer eigenen Besetzung bearbeitet. Zunächst ist da der kriegsmüde, depressive König Agamemnon, der mit einem Handtuch in der Sauna abhängt. Dann die drei Teile der Orestie: Agamemnon, die Cheophoren und die Eumeniden. Schließlich eine Fernsehdirektübertragung aus Tauris, „denn Klytämnestra ist kein Einzelfall,“ und CNN überall.

„Eine Überforderung und Zerreißprobe ist für eine junge Künstlergeneration das Wichtigste,“ behauptet Christina Friedrich. Andreas Veiel hat genau das in seinem Film „Die Spielwütigen“ porträtiert. Und: „Irgendwann ist für jeden die Zeit gekommen.“ Da müsse er sich einmal im Leben mit den Griechen beschäftigen. Der „Urklopper“ des Aischylos, dafür sei die Zeit reif, dachten die Lehrer. Im letzten Sommer fuhren sie also raus nach Brandenburg, zu einer „Findungsklausur“. Nach zwei Tagen hatten alle so viele Mückenstiche, dass sie vorzeitig zurückfuhren. Waren sie etwa schon am Landleben gescheitert? Es gab Meuterei und Meetings. Sind ja nicht alle so wie die Christina Hofer, die sagt: „das ist einer der Urstoffe des Theaters – darauf hat man immer Lust.“ Kai Tuchmann hatte erst nichts übrig für das Thema. Warum sich mit Athene beschäftigen, „eine griechische Göttin, die wir nur noch als Gyros-Platte kennen?“

Aber weil einem nur zwei Möglichkeiten bleiben, mit einem Stoff wie diesem – entweder man sieht ihn in seiner historischen Bedeutung und erstarrt vor Ehrfurcht, oder man nimmt ihn sich zur Brust und lässt zu, dass er alles andere überstrahlt, haben sie sich für letztes entschieden. Und dann haben sie es gemerkt: Respekt ist tödlich. „So einen Stoff, den muss man klein kriegen, um ihn groß zu machen.“ Es war also notwendig, dass sie dafür ratlos in Unterwäsche auf der Bühne beisammen standen und eine rauchten. Dass sie die Iphigenie „Iphi“ und Klytämnestra „Klyti“ nannten, nur um endlich den Respekt zu verlieren. Die Schnittwunden auf den Proben waren nötig, auch das geplatzte Trommelfell. Und dass sich Alexander Marusch, verantwortlich für die CNN-Satire, die Stammbäume der Atriden aufschrieb. Die hingen wochenlang in seiner Wohnung.

„An diesem Stoff kann man großartig scheitern,“ hatte Friedrich lustvoll gesagt. Als wäre es schon ausgemachte Sache. Es gäbe jederzeit genug Gelegenheit, sich mit banalen Dingen zu beschäftigen. Vorher solle man erst das Schwere bearbeiten. Es stimmt. Sie sind wirklich ganz besoffen hier. Sie haben sich an der Größe der Themen berauscht, an ihrer Figuren betrunken. So viel Größe hat in diesem kleinen Zimmer der Regie kaum Platz. Es geht immer um den ganzen Menschen, das Extrem. Darunter tun sie’s nicht mehr. Friedrich sagt: „In Harmonie wird der Mensch nicht groß.“

Kai Tuchmann hat den Humor entdeckt. „In zweieinhalb Jahren an dieser Schule habe ich nie die Leute zum Lachen gebracht. Nun lachen sie. Ausgerechnet bei mir. Ausgerechnet in einer Tragödie.“ Tuchmann war, bevor er mit der Schule begann, stellvertretender Geschäftsführer der Dortmunder Bar „Limette“. Jetzt sagt er: „Eine Grenze hat sich in Lust verwandelt!“ Die Auseinandersetzung mit dieser Grenze durch den verordneten Stoff – welche Kreativität das freisetzt! „Es ist eine Begegnung mit Pathos, mit großen Gesten“, sagte Christine Hofer. Agnes Hansch ist mittendrin ihre Klytämnestra erkrankt. Nico Dietrich sieht seinen Agamemnon im Saunahandtuch auch plötzlich mal in der U-Bahn sitzen. Es ist ja „eine Flaschenpost, von vor 2000 Jahren,“ sagt Kai. Darin sei sex and crime und ein bisschen Religion. Kai raucht Schwarzer Krauser. Seine Haare sind schwarz und geölt. Agnes sagt: „Die alten Heldengeschichten begegnen einem ja nur noch im CNN- oder Hollywoodformat.“

Und Tilmann Köhler, dem es vorhin bei der Probe kaum gelang, seine rauschhaft agierenden Schauspieler zu stoppen, sitzt jetzt in der Cafeteria. Zu müde, um aufgeregt zu sein. Die Gegenwart spiegelt diese alten Dramen, sagt er. Sie sind überall. „Der Amokläufer ist der moderne Mensch.“ Tilmanns Haare stehen in alle Richtungen. In den Stücken entdeckt er verschiedene, unverständliche Phänomene, an denen zu arbeiten lohnt, weil wir heute noch jedesmal wie vor den Kopf geschlagen darauf blicken: Der Tod eines Menschen, der mit dem Jubel einer Menge verbunden ist, zum Beispiel. Da sah Tilmann vor seinem inneren Auge die Erschießung des rumänischen Diktators Ceausescu mit seiner Frau. Oder die Art, wie die minutiöse Vorbereitung auf sagen wir, einen Mord, diesen verharmlost: „Indem das vorbereitende Ritual vergrößert wird, wird die Tat selbst sehr klein. Der Mord selbst ist nur noch der letzte, kleine Schritt einer Kette von religiös überhöhten rituellen Handlungen.“ Da sah Tilmann Atta vor sich, der eine Liste von Ritualen ausübte, bevor er seine finale Boardingcard zog. Und er sah Robert Steinhäuser vor sich, den in Erfurt vielleicht die Rache trieb.

„Die Frage ist doch: Wo kippt das Sollen ins Wollen?“ Ab wann übernimmt ein Selbstmordattentäter einen Auftrag? Ab wann wird eine Handlung heilig? „Auch der verfolgte Orest ist ein Gotteskrieger.“ Tilmann hat einen Verdacht: Ist in unserer Gesellschaft ein gewalttätiger Akt etwa die einzige Art, sich auszudrücken? Zur letzten Ausdrucksmöglichkeit greifend würde der Mensch dann selbst zur Waffe.

Elisabeth Heckel niest noch immer. Sie hatte sich in der Probe vorhin am Blut verschluckt, das sie als Klytämnestra gierig aus ihrer Flasche trank. „Blutrache war vorher ein total abstrakter Begriff“, sagt sie, „jetzt, wenn ich es spiele, verstehe ich plötzlich, warum Blutrache existiert.“ Und man könne sie schon beneiden, diese alten Helden. Darum, dass ihr Leben ein Ziel hat. Ungeachtet, was das sei.

Einen höheres Ziel hatten die Schauspielschüler in den letzten Wochen auch. Sie haben sich hineingestürzt in das Projekt wie in den Trojanischen Krieg. Die Premiere selbst ist nur noch der letzte Schritt in einem langen Ritual. Ihr Opfer an die Götter? Die Semesterferien. – Irgendwann ist für jeden die Zeit gekommen. Steht die Leitung nach Tauris?

Premiere am Samstag, 16 Uhr, bat-Studiotheater. Weitere Vorstellungen am 7., 13. und 20 März.

Zur Startseite