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Kultur: Steinbruch der Geschichte

Filmfestspiele Venedig: Wie der 11. September, die Wehrmacht und die Queen ins Kino kommen

Der Film läuft gar nicht in Venedig, aber auf die Seite 1 des „Corriere della sera“ hat er es gleich geschafft: Gabriel Ranges „Death of a President“. In dokumentarisch anmutendem Schwarzweiß setzt der britische Sender Channel Four ein syrisches Attentat auf George W. Bush im Herbst 2007 ins Bild. Schon protestieren US-Republikaner, der Film könne Terroristen inspirieren, und das Weiße Haus vermeldet eisig: „Die Idee ist keiner Stellungnahme würdig.“ Immerhin wird in dem Artikel auf ein weiteres, kaum futuristisches Channel-Four-Drehbuch hingewiesen. Titel: „Der Tony Blair Prozess“. Thema: die Anklage des Ex-Premiers als Kriegsverbrecher; schließlich war Blair von Anfang an im Irak dabei.

Was für ein Kreislauf: Prognose wird Politik wird Geschichte wird Film wird Prophetie, und oft will es der kollektiven Vergangenheitsbewältigungsmaschine namens Kino gar nicht schnell genug damit gehen. In Venedig boomt dieses Jahr das Recycling von Geschichte und – vermischten – Geschichten; zumeist geben den Ereignissen anhaftende Resträtsel den Antrieb und die Hoffnung, sie ließen sich gewissermaßen im Wege postoperativer Imagination lösen. Manche Regisseure entpuppen sich dabei als CNN-Bilderprofiteure, andere finden ihre Inspiration abseits purer Rekonstruktion – und kommen den Möglichkeiten des Kinos aufregend näher.

Oliver Stones „World Trade Center“, der nach seinem US-Erfolg am Lido Station macht, ist kurz vorm fünften Jahrestag des Anschlags nicht nur ein klassisches Jubiläumswerk, sondern der erste eindeutige US-Durchhaltefilm contra Terrorismus und pro Irakkrieg. Schon diese kausale Verknüpfung, die sich als historisch falsch erwiesen hat, wirkt obszön. Als personale Klammer hierfür fungiert ein US-Marine (Michael Shannon): Der Filmheld initiiert nicht nur die Rettung zweier in den Trümmern eingeschlossener Polizisten (Nicolas Cage und Michael Pena), sondern verbindet die gute Tat mit einer explizit göttlichen Mission und dem Ruf nach Rache. Im Abspann wird sein zweimaliger späterer Einsatz im Irak ausdrücklich erwähnt – womit die christliche Rechtfertigung des schmutzigsten Krieges des Gegenwart perfekt wäre.

Dass „World Trade Center“, vor allem in den klaustrophobischen Szenen der mit dem Tod ringenden Polizisten, immer wieder bewegende Augenblicke hat, gehört zum Geschäft; ebenso die extreme Ausbeutung der mit beiden Schicksalen verbundenen family values, mit denen derzeit fast jede Hollywood-Major-Produktion Kasse zu machen sucht. Wie viel subtiler kommt dagegen „Quelques jours en septembre“ daher! Das Regiedebüt des erfolgreichen Drehbuchautors Santiago Amigorena („Samba Traoré“, „Post coitum animal triste“) mag voller dramaturgischer Schwächen und Längen sein; als Jubiläumsfilm eher abseits des Spektakulären aber spiegelt er weitaus eindringlicher das Gefühl struktureller Bodenlosigkeit, in dem wir seit jenem Datum leben.

Juliette Binoche und John Turturro sind die unaufdringlich agierenden Gegenspieler dieses stillen Thrillers: Arabische Geschäftsleute ziehen nach dem Tipp eines erfahrenen Mittelsmannes (Nick Nolte) ihr gesamtes Vermögen aus den USA zurück, und die damit verbundene Millionenprovision soll dessen beiden erwachsenen Kindern (Sara Forestier und Tom Riley) gutgeschrieben werden. Der Film schildert, von Paris bis Venedig, die Stationen dieser lebensgefährlichen Familienzusammenführung in wenigen Tagen vor jenem 11. September – und mündet erst in seinem letzten (Fernseh-)Bild in das, was manche schon mit einem kleinen, entscheidenden Vorsprung wussten.

Grob und saftig aber gefällt allemal besser, und je weiter die Geschichte zurückliegt, desto munterer lässt sie sich verbiegen. Paul Verhoeven („Robocop“, „Basic Instinct“) ist nach 20 Jahren Hollywood mit „Zwartboek“ in die Niederlande zurückgekehrt, einem Weltkriegsmelodram, bei dem die Fetzen fliegen. Meist sind es die Klamottenfetzen hübscher Frauen – und ob der Charme sentimentaler SS-Männer oder der mit Scheißekübeln anrückende Rachedurst der Nachkriegs-Holländer ihre schönen Brüste freilegt, ist erst mal nebensächlich. Verhoeven brüstete sich in Venedig damit, am Tabu der Kollaboration zu rütteln, aber seine Lovestory zwischen Gestapo-Chef Müntze (Sebastian Koch) und der Jüdin Rachel (Carice van Houten) ist pure Kolportage, bei der zudem die Deutschen gut wegkommen. Nicht nur, dass sie über den Endsieg hinaus stramm soldatische Rituale pflegen und sich niederländische Widerständler oft als Finsterlinge erweisen, auch die Liebe der Protagonisten findet höhere Quotenweihen. Müntze hat Frau und Kinder in Hamburg bei einem britischen Bombenangriff verloren, während die Deutschen Rachels Familie auf der Flucht erschossen haben: Sind da nicht zwei im Leid vereint, das Mittun von Müntzes Gestapo hin oder her?

Based on a true story: Das ist das übliche Etikett solcher Filme – und oft erstes Indiz für schamlos betriebene Ideologie. Deren bislang sauerstoffreichste Variante bietet einstweilen Stephen Frears mit „The Queen“, einer erhellenden Analyse des britischen Königshauses nach dem Tod von Lady Di. Auch Frears verwendet die CNN-Bilder und Zeitungsschlagzeilen aus jenem September 1997, aber nur als Kontrastmittel, um den Eskapismus und die Ratlosigkeit der Windsor-Familie umso deutlicher zu machen – mit der Queen (großartig: Helen Mirren) in ihrer ganz durchs Prinzip Protokoll verschütteten Menschlichkeit an der Spitze. Der damals frisch gewählte, mediensichere Premier Tony Blair (Michael Sheen) errettete die Königin vom Odium totaler Gefühllosigkeit – und damit auch jene kurios monarchistischen Strukturen, auf denen die britische Demokratie basiert. Blair dürfte den (guten) Film des altersweisen Frears ebenso mögen wie Bush jenen (groben) des nützlichen Narren Stone. Wie schön für sie: Venedig ist – noch – nicht Channel Four.

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