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Aufruhr und Gewalt. Revolutionäre stürmen 1789 die Bastille. Aquarell von Jean- Pierre Houel.

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Stéphane Hessel: Die Stunde der Empörung

Bestseller des Widerstands: Stéphane Hessels bürgerliches Manifest trifft den Zeitgeist – in Europa wie in der arabischen Welt.

Der Mut zur Revolte entspringt dem Geist der Empörung. Zorn, Wut und auch Hass oder Fanatismus, die jetzt mitstürmen im Wirbel des Umsturzes, der gerade die arabische Welt ergriffen hat, steigern die Empörung, in der schon das „Empor“ der Aufstands liegt, zur Tat. Die Empörung selbst aber gründet als Affekt zuerst im emphatischen Bewusstsein einer Kränkung, eines tiefer empfundenen Skandals und dabei in der Erfahrung von Ungerechtigkeit oder gar Unfreiheit.

Das 21. Jahrhundert, das mit dem 11. September, neuen Kriegen, Naturkatastrophen, der verschärften Drohung des Klimawandels und einer Weltfinanzkrise begann, ist spürbar schon jetzt: eine Ära der Zäsuren. Des Zeitenwandels. Dem Kapitalismus begegnet als kritisches Manifest zwar kein neuer Kommunismus. Aber ein Gespenst geht um, nicht nur in Europa. Der Geist der Empörung.

Historiker sagen, es gibt keine Zufälle. Bemerkenswert ist es freilich schon, dass just aus Frankreich, der alten Kolonialmacht Nordafrikas, schon vor dem jüngsten tunesischen Feuer der Geistesfunke der Revolte durchs Land flog und sich auszubreiten scheint. Ein alter Herr, der 93-jährige Stéphane Hessel, hat dazu den Text der Stunde geschrieben: „Indignez-vous!“, als Broschüre eines Kleinverlags in Montpellier publiziert und in Frankreich seit Ende Oktober schon rund eine Million Mal verkauft. Ausgaben in allen Weltsprachen folgen, und am 8. Februar erscheint „Empört euch!“ auch auf Deutsch (übersetzt von Michael Kogon, Ullstein Verlag Berlin,32 Seiten, 3, 99 €).

Stéphane Hessel, gebürtiger Berliner, einst Résistance-Kämpfer, Überlebender des KZs Buchenwald, war nach dem Krieg französischer Diplomat und ist heute der letzte lebende Mitautor der UN-Menschenrechtserklärung von 1948. Ein fabelhaft jung und rebellisch gebliebener Geisteskopf im (vermeintlichen) Greisenalter – persönlich hochbescheiden lebend, seine Buchhonorare stiftet er an das Russell-Tribunal und andere im Streit für die Menschenrechte engagierte Nichtregierungsorganisationen.

Erst jetzt ist Hessel mit seiner späten Popularität so etwas wie ein weißer Bruder im Geiste von Nelson Mandela geworden. Doch weil er zuvor nie ein Mann der Massen war, erklärt sich der ungeheure Erfolg von „Empört euch!“ nicht aus der Person. Genau genommen auch nicht aus dem reinen Inhalt des Textes, der im Französischen genau 14 und im Deutschen nun 15 Druckseiten einnimmt. Hessel leitet seinen Appell vor allem an die junge Generation aus der eigenen Erfahrung von Krieg, Diktatur und Résistance ab. „Das Grundmotiv der Résistance war die Empörung“, schreibt er. Und nach 1945 und seit der Verabschiedung der UN-Menschenrechts-Charta „haben sich mir immer neue Gründe zur Empörung geboten“.

Hessel nennt „die Macht des Geldes“, die „niemals so groß, so anmaßend war wie heute, mit Lobbyisten bis in die höchsten Ränge des Staates“. Er fährt fort: „Noch nie war der Abstand zwischen den Ärmsten und den Reichsten so groß. Noch nie war der Tanz um das goldene Kalb – Geld, Konkurrenz – so entfesselt.“ Und gleichzeitig spare der Staat, trotz allen privaten Reichtums, an den Ärmsten, an den Schulen, an Kindern und stoße Zuwanderer und Minderheiten wie die Sinti und Roma (das bezieht sich direkt auf Frankreich) „in die Illegalität“.

Ihn, den Sohn des jüdischen deutschen Schriftstellers Franz Hessel, treibt auch besonders um, „dass Juden Kriegsverbrechen begehen können“, er nennt besonders die israelische Gaza-Politik und beruft sich dabei auf den UN-Bericht von Richard Goldstone aus dem Herbst 2009. Terrorismus, auch als „Erscheinungsform von Verzweiflung“ lehnt Hessel entschieden ab, sagt: „Die Zukunft gehört der Gewaltlosigkeit und Versöhnung der Kulturen.“ Um die Welt sozial, ökonomisch und ökologisch zu retten, müsse es Alternativen geben zu dem „im Westen herrschenden materialistischen Maximierungsdenken“, und der Traktat endet mit dem Zuruf: „Neues schaffen, heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten, heißt Neues schaffen.“

Offenkundig ist es nicht die konkrete politische Analyse oder auch nur das Argument, das hier bewegt. Es ist der Ton.

Es ist der getroffene Zeitgeist. Hier spricht, ohne je das leicht abgegriffene Wort „Zivilgesellschaft“ zu bemühen, ein Bürger, ein Citoyen. Kein Bourgeois. Und dieser Geist weht nicht nur links des Rheins. Wer will, kriegt so auch noch einmal eine Ahnung, wie unglaublich alt beispielsweise die viel jüngeren Westerwelles gegenüber dem 93-jährigen Herz- und Verstandesmenschen aus Paris wirken. Wie sehr die FDP als vermeintliche Bürgerpartei einen politisch neu aufgeladenen Begriff von Bürgerrechten verschlafen hat: lauter Henkelmänner (Hans-Olaf H.) statt neue Flachmänner (der frühere sozialliberale Vordenker Karl-Hermann Flach).

Stéphane Hessel, 1917 in Berlin geboren, überlebte das KZ Buchenwald. Der französische Ex-Diplomat und Bürgerrechtler ist der letzte lebende Mitautor der UN-Menschenrechtserklärung.
Stéphane Hessel, 1917 in Berlin geboren, überlebte das KZ Buchenwald. Der französische Ex-Diplomat und Bürgerrechtler ist der letzte lebende Mitautor der UN-Menschenrechtserklärung.

© Boris Horvat, AFP

Auch das seit den Protesten gegen „Stuttgart 21“ in Deutschland so beliebte (und bald beliebige) Wort vom Wut- und Mutbürger greift gegenüber dem Begriff der „Empörung“ zu kurz. Empörung sitzt tiefer und geht dem Wüten und Wagen voraus. Tatsächlich schließt Stéphane Hessels kleine, in ihrem Duktus mit Pathos, aber keinerlei Pathetik versehene Schrift an eine große Tradition der Moralisten und Aufklärer an.

Natürlich denkt man im französischen Zusammenhang sogleich an Rousseau und Voltaire, vielleicht auch an den Abbé Grégoire, der in der Französischen Revolution das Ende aller Privilegien für Adel und Klerus forderte und die im August 1789 in Paris deklarierten Menschen- und Bürgerrechte bald auch für fremde Völker einforderte und mit seinen Streitschriften die (von Napoleon später wieder eingeführte) Abschaffung der Sklaverei in Frankreichs Kolonien durchsetzte. Außerdem spielt Hessels Aufruf „Indignez-vous!“ für manche auf das berühmte „J’accuse...!“ des Schriftstellers Émile Zola an: jenen offenen Brief, der den Gerichtsskandal der antisemitischen Dreyfus-Affäre geißelte.

Zum akuten Zeitgeist mag in Frankreich und über das Land hinaus auch die Beachtung des im Internet verbreiteten Manifests „L’Insurrection qui vient“ („Der kommende Aufstand“) beigetragen haben. Den „Furor der Empörung“ feiern zudem Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem jetzt auch auf Deutsch erschienenen antikapitalistischen Wälzer „Common Wealth. Das Ende des Eigentums“, und von eben diesem Empörungsgestus sind seit Jahren bereits die vor allem Amerika-kritischen Polemiken, Analysen und den Aufstand der Zivilgesellschaft(en) fordernden Essays der indischen Bestsellerautorin Arundhati Roy getragen („Democracy now!“).

Barack Obama erschien bei der Übernahme seiner Präsidentschaft als weltweiter Hoffnungsträger für mehr Demokratie, Ökologie und zivilgesellschaftliche Vernunft. Seine Vorstellungen des großen weltweiten Wandels sind zunächst an der inneramerikanischen Realität zerschellt. Die weitergehende Frage ist, ob und wie die alte Weltmacht USA und die neue Superpower China (mit ihren südostasiatischen Nachahmern) die europäische und neue arabische Stimmung aufzunehmen in der Lage sind.

Doch in der Tradition der Empörungskultur wird ein Grundappell wohl immer nachhallen, den vor knapp 200 Jahren der poetischste und scharfsinnigste aller Aufrüttler formuliert hat. Es war nicht Karl Marx, es war der Dramatiker und Sozialrevolutionär Georg Büchner mit seiner Forderung im „Hessischen Landboten“: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ Das bleibt: schlagend.

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