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Kultur: Stille Nacht, Halloween-Nacht

Weihnachten als digitalisierter Horror: „A Christmas Carol“ von Robert Zemeckis

Charles Dickens’ „A Christmas Carol“ überprüft, wie jeder weiß, die Möglichkeit von Weihnachten unter den Bedingungen der Herrschaft des entfesselten Finanzmarkts. Und Disney hat das jetzt verfilmt, im 3-D-Format. Wir sehen, noch etwas genauer gesagt, den Begleitfilm zu Max Webers „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, freigegeben ohne Altersbeschränkung. Weihnachten kennt auch keine Altersbeschränkung.

Während man Jim Carrey in seinen gleich sieben Rollen zuschaut, hat man viel Zeit, über diese Dinge nachzudenken. Eine Voraussetzung für Carreys siebenfaches Virtuosentum ist, dass man ihn in keiner Gestalt erkennt. Seine Hauptrolle ist natürlich der plötzliche Alleininhaber der Firma Scrooge & Marley, dessen Partner Marley soeben gestorben ist, und zwar am 1. Weihnachtstag. Natürlich ist das Datum besonders bedrückend, nur Scrooge hält es nicht für unpassend – die zwei Tage allgemeinen Müßiggängertums, bei dem alle ein gutes Gewissen zu haben scheinen, sind ihm ohnehin zutiefst zuwider. Das erste Gebot lautet: Stiehl dem Herrgott nicht die Tage! Keine natürliche Physis könnte die protestantische Ethik der unbedingten Pflichterfüllung in so vollendeter Dürre ausdrücken wie diese Leinwandfigur, die Carrey ist und nicht ist zugleich. Das liegt am Performance-Capture-Verfahren.

Die Kamera hat seine Bewegungen aufgenommen und ihn dann digital neu erschaffen. Mit ausgedünntem Ameisenleib, einem Kinn wie einer Kriegserklärung an die Welt und den eindrucksvollsten Gichtfingern des Kinos überhaupt.

Vielleicht sollte man seinen Kindern, während sie das Gruseln lernen, die Zusammenhänge etwas erklären. Dieser Scrooge ist keineswegs ein Börsianer wie du und ich, weil er im Gegensatz zu den Lebemännern unserer Tage vollständig genussunfähig ist. Das ist zugleich seine Rechtfertigung vor Gott sowie Rechtfertigung seiner Härte gegenüber den Armen und Schwachen, diesen Tagedieben vor dem Herrn. In der Geburtsstunde des Kapitalismus galt: Ich gönne euch nichts, aber mir auch nichts!

Dass wir hier ausschließlich Lemuren sehen, ein beweglich gewordenes Wachsfigurenkabinett, entspricht dem spezifischen Lebendigkeitsgrad der Hauptbeteiligten sowie unserem Eindruck von Buchillustrationen des 19. Jahrhunderts. Andererseits war wohl noch nie eine Stadt so lebendig wie hier das London des 19. Jahrhunderts, wobei wir es abwechselnd überfliegen, durchrasen, durchrollen und begehen, eine kurze Reise ins All inbegriffen. All diese Bewegungsformen werden dank avanciertester Tricktechnik und dreier Weihnachtsgeister möglich, mit denen Scrooge reist. Weihnachten hat zu wenig Action? Jetzt nicht mehr.

Bereits Dickens bemerkte die spezifische Verbindung von kühlstem, nüchternstem Geschäftsgeist und Aberglaube und verwandte viel Aufmerksamkeit auf den Realitätsgrad der Gespenster, aber erst unser High-Tech-Zeitalter liefert den visuellen Nachweis, dass niemand wirklicher ist als ein Geist, manchmal. Sehenswert ist das durchaus.

Dass unter Robert Zemeckis’ Händen die Weihnachtsgeschichte so endgültig zur Schauergeschichte wird, ist ihm nicht vorzuwerfen, denn bei Dickens ist das angelegt. Nur einen Unterschied gibt es, es ist auch der Unterschied zu den früheren, oft sehr schönen Verfilmungen dieser Weihnachtsgeschichte: Zemeckis’ Animationswerk besitzt große Ähnlichkeit mit dem noch unbesuchten Scrooge. Es hat trotz seines großen Schauwerts, vielleicht auch gerade deshalb, keine Seele. Eine Weihnachtsgeschichte ohne Seele aber ist eine Fatalität. Und unsere Kinder werden fortan Weihnachten statt Halloween für das große Gruselfest des Jahres halten?

In zehn Berliner Kinos. Originalversion im Cine-Star, Sony Center

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