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Kultur: Strahlende Strapse

„La Traviata“ in Hannover: Intendant Puhlmann atmet auf

Während der 21-jährigen Amtszeit von Hans-Peter Lehmann kannte das Hannoversche Opernhaus keine Auslastungsprobleme, weil den Leuten die handwerklich solide, unspektakuläre Art der Inszenierungen gefiel, und sich das Sängerensemble hören lassen konnte. Albrecht Puhlmann, der den klassizistischen Bau im Herzen der niedersächsischen Landeshauptstadt nach Lehmanns Pensionierung übernahm, war das nicht genug. So wie ihm das zuvor schon als Operndirektor in Basel gelungen war, wollte er an der Spitze der Avantgarde mitspielen. Und zwar sofort. Diesen Wagemut bezahlte er mit einem massiven Exitus des Stammpublikums: 4500 Abonnenten ergriffen die Flucht. Belohnt aber wurde Puhlmann mit überregionaler Aufmerksamkeit.

Auch die Eröffnungspremiere seiner dritten Spielzeit löste wieder eine Sternfahrt der Kritiker nach Hannover aus. Zum dritten Mal hatte Puhlmann Calixto Bieito, den katalanischen Skandalregisseur, eingeladen und ihm nach „Don Giovanni“ und dem „Trovatore“ nun Verdis „Traviata“ anvertraut. Die ersten beiden Produktionen hatten wegen ihrer sexuellen Drastik und ihren Gewaltdarstellungen echte Tumulte ausgelöst. Diesmal allerdings war die Fraktion der Begeisterten den Buh-Rufern zahlenmäßig eindeutig überlegen. Kein Wunder also, dass der Intendant übers ganze Gesicht strahlte, als er bei der Premierenfeier auf einen Stuhl stieg: „Ich glaube, das war der Durchbruch!“

Damit meinte Puhlmann zweifellos sowohl sich und sein Team als auch den Inszenierungsstil des Regisseurs. Wenn einer wie Calixto Bieito in Hannover Jubel auslöst, darf sein drastischer Filmrealismus wohl als kanonisiert gelten (im Juni 2004 kommt er mit der üblichen Verspätung dann auch nach Berlin und inszeniert Mozarts „Entführung aus dem Serail“ an der Komischen Oper). Die „Traviata“ ist ihm tatsächlich beeindruckend gelungen – wenngleich er auch hier durch manch unnötige Reizüberflutung die Aufmerksamkeit des Publikums irritiert. So verlegt er die Handlung natürlich ins Heute, in einen Swinger-Club, wo Männer sich Plastikpenisse umschnallen oder zum knappen Lackhöschen Pumps tragen, wo Transvestiten im Falsett singen und Frauen mit Frauen herummachen. Hier beweist Bieito erneut, wie souverän er Massen bewegen und dass er noch den letzten Statisten zur wiedererkennbaren Figur formen kann. Für seine Botschaft aber braucht er die vielen optischen Exzesse gar nicht. Ebensowenig wie eine Titelheldin, die den ganzen Abend im Nutten-Strapsen-Look herumläuft.

Natalia Ushakova hat zwar die passende Figur - dafür mangelt’s an der Koloratur. Enrique Mazzola, dem Dirigenten, hätte man eine Interpretin mit dem passenden Pianissimo für seine fein ausbalancierte Klangsprache gewünscht. Mit dem hervorragend motivierten Staatsorchester Hannover legt Mazzola nämlich einen eleganten, rhythmisch federnden Verdi hin, der die Schönheiten der Partitur bis zuletzt verteidigt gegen die hässliche Geschichte von der Kameliendame Violetta Valéry.

Ins Zentrum der Aufführung rückt Bieito Alfredos Vater (Trond Halstein Moe mit frei strömendem, in der Höhe ein wenig begrenztem Bassbariton): Ein verlogener Bourgeois, dem die Familienehre am Herzen liegt, und der seine Lust im nächsten Moment hinterrücks an der Geliebten seines Sohnes befriedigt (die Triebabfuhr bezahlt er, als Ehrenmann, selbstverständlich sofort in bar). Weil er Traviata ausschließlich als käuflichen Körper betrachtet, sind ihm Alfredos Gefühle völlig schleierhaft: Die Memme heult doch tatsächlich los, als Violettas Abschiedsbrief eintrifft! So hart wie in Hannover sind Vater und Sohn Germont kaum je aufeinander geprallt: Will Hartmanns Alfredo wirkt jungenhaft verletzlich, krümmt sich Mitleid erregend im Liebesschmerz, um dann im dritten Akt Furcht einflößend in Rage zu geraten (alles kein Problem für seinen kraftvoll-kernigen Tenor), während der herzenskalte Padre gnadenlos den Ein-Indianer-kennt-keinenSchmerz-Griff anwendet.

Doch es kommt noch schlimmer: Violetta spielt Alfredo ihre Schwindsucht nur vor. Während sie „addio del passato“ singt, packt sie die Koffer, und wenn am Ende ihres Todesmonologs von neuen Welten die Rede ist, springt sie plötzlich auf und entschwebt gen Brasilien statt in den Himmel. Wo moderne Medizin den Lungentod unglaubwürdig macht, muss Germont die Versuchung eben per Flugticket aus der Welt schaffen.

Man könnte ewig weitererzählen von dieser Inszenierung. Von der extravaganten Frauenfigur beispielsweise, die Bieito aus den beiden weiblichen Nebenrollen geschaffen (und mit Musik aus Alfredos Gesangspartie sowie einer Chornummer ausgestattet) hat. Leandra Overmann gibt diese Signorina Annina/Flora – Violettas Zuhälterin? – als grelles Hella-von-Sinnen-Double. Und auch das gefiel dem neuen alten Hannoveraner Publikum über die Maßen.

Nächste Aufführungen: 3. und 25. Oktober, 23. November, 4. und 8. Dezember.

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