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Epische Bilder. Eine Szene aus Nuri Bilge Ceylans Film „Small Town“.

© promo

Streaming-Plattform MUBI: Erstlingswerke berühmter Regisseure

Der Januar beim Film-Streaming-Dienst MUBI: zu sehen sind Debüts von Lina Wertmüller, Francis Ford Coppola und Nuri Bilge Ceylan.

Krawatten werden gebunden, Socken hochgezogen, Nägel lackiert. Achselhöhlen werden deodoriert, Gewichte gestemmt. Tyler Taorminas wunderlicher Debütfilm „Ham on Rye“ (2019) beginnt mit den aus dem Prom-Film bekannten Ritualen, doch schon auf dem Weg durch die amerikanische Vorstadt – zu Fuß, per Skateboard oder Hoverboard, mit dem Auto - gerät der Genrefilm neben die Spur.

Verträumtheit und Teenage Angst liegen in der Luft, die Ankunft wird herausgezögert, eine muss dringend aufs Klo, ein anderer hat eine Panikattacke. Am Ziel, in einem schäbigen Diner, entscheidet sich für die Teenager bei lappigen Sandwiches und erratischen Tänzen ihr weiteres Schicksal.

Wer es nicht „schafft“, ist auf ewig dazu verdammt, in der Kleinstadt hängenzubleiben. Taormina kondensiert die Fragen, die der Coming-of-Age-Film in Form des Entwicklungsromans entfaltet, in einer gedehnten „rite de passage“.

Romantische Überhöhung mischt sich mit Schrulligkeit, zeitgenössischer Realismus mit hemmungsloser Nostalgie. „Ham on Rye“ ist eine Demontage der vor allem im US- Kino obsessiv kultivierten Aufbruchserzählung - am Ende bleibt alle Bewegung in lähmender Stase stecken.

Die Erstlinge lassen die stilistische Signatur schon erkennen

Das Scheitern des Neuanfangs hallt auch in einigen Filmen des Programms „First Films First“ wider, mit dem die Streaming-Plattform MUBI jährlich den Januar eröffnet. Etwa in Lina Wertmüllers charmant-komischem Erstling „I basilischi“ (Die Basilisken, 1963), der die Verschlafenheit eines Nests in der süditalienischen Region Basilicata gleich in der Eingansszene in Form einer kollektiven Siesta illustriert.

In der sehenswerten Reihe vertreten sind zudem die Debütfilme von Francis Ford Coppola, Denis Villeneuve, Jia Zhangke, Nuri Bilge Ceylan, Mia Hansen-Løve und Angela Schanelec. Was ihre Arbeiten vereint: Bei allen Verschiebungen und Weiterentwicklungen in ihrem Werk ist die stilistische Signatur unverkennbar.

Ceylans Debüt spielt in einer kleinen Stadt in der Türkei

Bei Hansen-Løve der fließende Rhythmus, Themen wie Abschied und das Verstreichen von Zeit; bei Schanelec das Ausschnitthafte der Bilder, ihre Genauigkeit, ihr Sinn für Konkretion. Oder bei Ceylan die epischen Bilder und die Bezüge zum Tschechowhaften Konversationsstück. „Kasaba“ (The Small Town, 1997), Ceylans auf der Autobiografie seiner Schwester basierendes Debüt, spielt in einer kleinen Stadt in der Türkei.

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Aus der Perspektive der Kinder entfaltet sich in grobkörnigen Schwarz-Weiß-Bildern eine Erzählung, die bei aller räumlicher Beschränkung – Schauplatz ist hauptsächlich ein Maisfeld – ausgreifend ist.

Sie erstreckt sich über drei Generationen und bewegt sich von der Lebensgeschichte des Vaters, der in den USA studierte über die Kriegserinnerungen des Großvaters bis hin zu den metaphysischen Räumen des Traums. Auch hier bleibt der Aufbruch eine nicht verwirklichte Sehnsucht.

Umwälzungen im gegenwärtigen China

Jia Zhangkes, komplett mit Laien und auf 16 mm gedrehtes Debüt „Xiao Wu“ (Pickpocket, 1998) ist von einem noch grimmigeren Realismus geprägt als seine späteren Arbeiten. Die sozialen Ungleichheiten und Umwälzungen im gegenwärtigen China sind hier der Hintergrund einer erbarmungslosen Geschichte über einen Taschendieb, der sich auf den Straßen der Kleinstadt Fenyang durchschlägt. Als ein alter Freund, inzwischen ein erfolgreicher Unternehmer, heiratet, offenbart sich die Perspektivlosigkeit des Helden.

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Trotz der Rauheit findet Zhangke immer wieder zu Bildern, die den Beschränkungen der Wirklichkeit regelrecht trotzen – etwa wenn in einer Karaoke-Bar alle Sehnsucht und Traurigkeit in sentimentalen Schlagern ihren Ausdruck finden.

Etwas Rohes ist auch „Das Glück meiner Schwester“ (1995) eigen. Die frühere Theaterschauspielerin Angela Schanelec suchte in ihrem Debüt nach Erzählmöglichkeiten, die sich auf einer Bühne nicht verwirklichen ließen.

Eindringliche Familiengeschichten

Die wortreiche Dreiecksgeschichte um einen Mann und zwei Schwestern (eine verkörpert Schanelec selbst) spielt größtenteils auf den Straßen Berlins, dort, wo es besonders laut ist: an Kreuzungen, viel befahrenen Straßen, in Unterführungen. Nicht zuletzt die Spannung von Originalton und einer in all ihrer drängenden Heftigkeit geformten Sprache macht diesen Film so eindringlich.

Den Titel von Hansen-Løve berührendem Debüt „Tout est pardonné" („All is Forgiven, 2007) könnte man dagegen über ihr gesamtes Werk stellen. Die Geschichte um eine junge Familie, die an der Heroinsucht des Vaters zerbricht, ist vom Schmerz durchwirkt.

Im zweiten Teil des von abrupten Zeitsprüngen bestimmten Films versucht die Tochter wieder Kontakt zu ihrem Vater aufzunehmen. Sie stellt Fragen über die Vergangenheit – aber viel mehr noch geht es darum, ein Verhältnis zueinander in der Gegenwart zu finden. „Tout est pardonné“ ist ein Film über den Verlust wie auch über das Weiterleben und den Trost.

Esther Buss

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