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Streit um Strittmatter: Zucht und Unordnung

Erwin Strittmatter, Großschriftsteller der DDR, würde heute 100 Jahre alt. Doch die Feiern geraten merkwürdig. Denn er ist keiner mehr, an den man sich einfach erinnert.

Einmal, es muss in den 70ern sein, da liegt der Großschriftsteller der DDR mit einem Gipsbein oben in seinem Arbeitszimmer lahm, unter ihm der Stall, in dem seine geliebten Pferde mit den Hufen scharren. Er solle ihn besuchen kommen, wurde ihm gesagt, und die zwei Kilometer von Dollgow zu ihm raus höchstens mit dem Fahrrad fahren. Als sie oben beisammen sitzen, nutzt Wolfgang Kielblock den Moment und hält Strittmatter vor, er sei in seinem „Ole Bienkopp“ frauenfeindlich. „Du hast nicht alles gelesen“, triumphiert Strittmatter. „Du kennst mich nicht.“ Man müsse das ganze Werk in Betracht ziehen. Alles. Nicht nur einen einzigen Aspekt.

Während dieser einzigen längeren Unterhaltung, die Wolfgang Kielblock während fast 40 Jahren, die Erwin Strittmatter in Schulzenhof lebt, mit ihm führt, schenkt einer der Söhne stetig nach. Später auf dem Rückweg kann sich Kielblock gerade noch auf dem Fahrrad halten.

Erwin Strittmatter hatte von allem immer viel. Tauben, Angorakaninchen und vor allem Pferde züchtete er selbst. Von allem besaß er Rudel: drei Frauen, acht Söhne, davon sieben leibliche. Selbst unbelebte Dinge gerieten ihm zu kleinen Herden: Fünf T im Namen, mehr als 30 Bücher – der berühmte „Laden“ und der „Wundertäter“ kamen gleich als Trilogien. Vier Nationalpreise der DDR. Autogramme schreiben dauerte Stunden.

Wolfgang Kielblock, bald 72, schaut mit den wohlwollenden Augen des Grundschuldirektors, der er war, in die Welt. Der Mann, der Strittmatters Sohn Matthes das Schreiben und Lesen lehrte, ist heute ehrenamtlicher Bürgermeister in Stechlin und dabei, in Dollgow, Gransee, Brandenburg einen 100. Geburtstag auszurichten, der deshalb so merkwürdig ist, weil man sich an jemanden wie Strittmatter nicht einfach erinnern kann: Alles erscheint gerade in neuem Licht. Leute, die ihn zu kennen glaubten, fühlen sich getäuscht. Tagebücher und eine Biografie, die kurz vor dem Geburtstag erschienen, zeigen nicht den Wert seines Werkes, sondern dessen Preis. Man kann dort nachlesen, wie einer auf Kosten vieler anderer sein Werk verfolgt, auf Kosten der Familie vor allem, aber auch auf Kosten einer Wahrheit. Womöglich auf Kosten der eigenen Integrität?

Seit man weiß, dass auch ein Erwin Strittmatter im Zweiten Weltkrieg auf dem Balkan Beutekühe gemolken hat, ist zum 100. Geburtstag fraglicher denn je, was er für einer war. Strittmatter war einmal Erster Sekretär des Schriftstellerverbandes der DDR, später warf man ihm Kontakte zur Stasi vor. Dokumente beweisen, dass er im Zweiten Weltkrieg erst in einem Bataillon der Ordnungspolizei war, das später in das SS-Polizei-Gebirgsjägerregiment 18 eingegliedert wurde. Nach Hause schrieb er Briefe, aus denen Begeisterung und Mitleid spricht. Die Briefe sind Grundlage für die aktuelle Biografie.

Die Leute, die man anruft, haben sich festgelesen. Sie sind nervös und dünnhäutig. Kielblock sagt, es sei eine unzulässige Verengung, wenn man jetzt nur noch über ein Thema redet. „Das Werk steht ja nicht infrage.“ Man muss das ganze Leben sehen. Die Umstände der Zeit. Alles. Nicht nur einen einzigen Aspekt.

Was aber ist alles?

Der Werktätige - Strittmatters Schaffensfuror

Man kann ein Ticket nach Leipzig lösen, in die Vergangenheit, in eine Familie, in der die zahlreichen Nachkommen noch immer darum ringen, was sie einander sein wollen.

Knut Strittmatter wartet am Gleis. Was er geerbt hat? „Termintreue“, sagt der Sohn als Erstes. Er rangiert einen nach Leipzig-Möckern auf den Hof des ehemaligen Tierernährungsinstituts an der Uni Leipzig. Dann führt er über den elastischen PVC-Boden aus einer untergegangenen Welt bis ans Ende eines Ganges links. Die Stille im Albrecht-Daniel-Thaer-Institut für Agrarwissenschaften ist vollkommen.

Strittmatter ist Schafzüchter geworden, wissenschaftlicher Experte, einer der ersten in der DDR. Die DDR züchtete auf Wolle, die BRD auf Fleisch. Knut Strittmatters Spezialität: die „individuelle Anpaarung“, wobei er die Eigenschaften jedes einzelnen Schafes berücksichtigt. Es gab Tage, da hat er an einem einzigen Tag 1000 Schafe bonitiert.

Die öffentlichen Urteile über seinen Vater kommen ihm gnadenlos vor. Er habe sich zwei Systemen angedient, schreiben die Leute nun. „Was aber meinen sie mit angedient? Das klingt ja so, als wären alle anderen Widerstandskämpfer gewesen.“

Knut Strittmatter ist der zweite Sohn aus erster Ehe, der nach der Trennung von der Mutter dem Vater zugesprochen wird. Er ist der älteste Sohn, der noch lebt.

Erst als Erwin Strittmatter 1954 alles auf eine Kate setzt, sich vom ersten Nationalpreis Schulzenhof kauft, das kleine Vorwerk bei Dollgow, Gransee, um seinen Traum vom Landleben zu verwirklichen, ist dort auch genug Platz für den Sohn. Der war zuletzt zweieinhalb Jahre im Heim, in Schulzenhof erwarten ihn noch der neue kleine Halbbruder Erwin Berner, der knapp ein Jahr ist, und Ilja, Sohn aus der ersten Ehe von Strittmatters dritter Frau Eva. Als Ältester darf er abends in sein eigenes Zimmer oben, das Fenster direkt neben dem Taubenschlag, Orientalische Roller, die in der Luft einen Salto machen, „Purzeltauben“, zu deren Gurren er morgens erwacht.

Erwin Strittmatter war ja nicht nur ein begnadeter Pferdezüchter, er züchtete eben auch Tauben und Angorakaninchen. „Am Werden teilhaben“, notiert Erwin Strittmatter fasziniert in sein Tagebuch: Das ist für ihn das Züchten. „Das ist es“, sagt auch sein Sohn. Und von der Geburt an stehe man vor der Entscheidung, wie man die Nachkommen behandelt: behalten, verkaufen oder schlachten. „Sie müssen eine Selektionsentscheidung treffen. Das ist ziemlich hart.“

Hinter ihm an der Pinnwand hängt ein Bild von einer Zuchtkuh mit prallem Euter. Ein Schaf blickt ernst aus seiner Wolle. Es sind prachtvolle Exemplare, die Besten ihrer Art. Erwin Strittmatter wollte der beste Schriftsteller sein.

Häuser bauen, Bäume pflanzen, Söhne zeugen auch. Aber Strittmatter hatte eine originellere Art gefunden, unsterblich zu werden: das „Lebenswerk“. Alles war auf dieses Lebenswerk ausgerichtet, sein Leben ein einziges Schaffen – Schaffen von Voraussetzungen zum Schreiben. Mit dieser Idee im Kopf hatte er sich in seine dritte Frau Eva verliebt, seine Lebensbegegnung, mit der er 40 Jahre in Schulzenhof das meiste teilen würde, mit der er in den besten Momenten, die für ihn immer die Momente der Arbeit waren, eine große Einheit fühlt. Als sie schwanger wird, 1952, fühlt er sich noch von ihr verraten. Sie ist doch seine Arbeitsgefährtin! Die war sogar bereit, das Kind für die Beziehung zu opfern, wie sie später in einem Interviewbuch erzählt. Aber weil das Abtreibungsmittel nicht wirkt, kommt 1953 Erwin Berner, der erste der drei gemeinsamen Söhne ans Licht.

Schuld und Dankbarkeit und Respekt und Furcht und Ehrgeiz und Egoismus vermischen sich. Da ist Erwins Werk und Evas Beitrag. Unauflöslich ist auch hier jeder mit seiner Familie verbunden, an Fäden aus fein verdrehter Schuld.

Aber kaum sinkt ein Erfolgsmensch neuerdings mit dem Gewicht seiner Verdienste ins Grab, richten sich an diesen Fäden die unbefriedigten Gläubiger auf: Der Tote hat offene Rechnungen hinterlassen! Die Geschädigten fordern Genugtuung, die Beobachter bewegen sich lustvoll in den Wüsten, die der Erfolg hinterlässt. Sie lesen Walter Kohl, sie kaufen Tilmann Jens’ schonungslosen Bericht über den Verfall seines Vaters Walter. Die „Abrechnung“ ist ein eigenes literarisches Genre geworden.

Knut Strittmatter ist das unangenehm. Er ist von einer Abrechnung weit entfernt. Er erzählt nüchtern, weil es die Wahrheit ist.

Sein Vater habe es geschafft, seine Frau zu überzeugen, „dass ein kinderfreies Leben für sein Schreiben am besten sei“, sagt Knut. Was bedeutet, dass die Söhne Ilja aus Evas erster Ehe, Erwin, Jakob und Matthes lange Zeiten bei der Großmutter in Neuruppin verbringen. Weihnachten hält er für unnötig, Eva muss das durchsetzen, jähzornig prügelt er seine Kinder und geht danach im Tagebuch mit sich selbst ins Gericht.

Knut Strittmatter weiß nicht zu sagen, wie viel an seiner Geschichte persönliche Härte seines Vaters war, und wie viel auch gesellschaftliche: Für ein höheres Ziel muss man ja Härten in Kauf nehmen. Kinder habe man damals anders behandelt. Andere Väter waren aus nichtigeren Gründen abwesend und grausam. Hier wurde immerhin für Weltliteratur gelitten.

Eva ringt um ihre eigene Arbeit. Alles zerrt an ihr. Sie beginnt, sich zum Gedichteschreiben aus ihren prallen Arbeitstagen davonzustehlen und wird in diesen gestohlenen Momenten die erfolgreichste Lyrikerin der DDR. Erwin ist jähzornig, ungeduldig. Wenn der Vater Mittagsschlaf hält, gehen die Jungs, die sich ihre Rückkehr auf den Hof erkämpfen mussten, nicht aufs Klo sondern irgendwo in den Garten. Die Wasserspülung könnte ihn wecken.

Man kann in diesem furchtbaren, fruchtbaren Schulzenhof auf viele verschiedene Arten unglücklich sein.

Knut Strittmatter, 15, fährt täglich die sieben Kilometer zur Oberschule mit dem Fahrrad. Als ihm verboten wird, seine Freundin nach Hause mitzubringen, weil auch die stören könnte, merkt er, dass auf dem Hof für ihn nicht mehr viel zu holen ist. „Ich habe mich dann von zu Hause wegorganisiert“, nennt Knut Strittmatter, was folgt. Er geht ins Internat. Er nistet sich bei einem Freund ein, in dessen Familie er so vertraut wird, dass er sich dort frei am Kühlschrank bedienen darf. Zu Hause hätte er das nie gewagt. Am Tag von Knuts Hochzeit 1965 handelt Erwin Strittmatter lieber Pferde.

Er kann im jüngst erschienenen Tagebuch ein anderes wichtiges Erlebnis aus der Perspektive seines Vaters nachlesen: Wie er seinen Tauben die Köpfe abreißen musste, weil es zu viele geworden waren. Es ist der Moment, in dem der Junge lernen soll, was Züchtung ist. Was Selektionsentscheidung. Der Vater beschreibt, wie Knut dabei weint.

Dieses Erstaunen über einen weichen Sohn! Knut Strittmatter zuckt die Schultern. „Seinen Ansprüchen zu genügen, das war fast unmöglich. Jetzt weiß ich: Er hat sich selbst nicht genügt.“

Mit der Kühle des analysierenden Wissenschaftlers empfiehlt er sich selbst, die Vaterfigur vom Autor zu trennen. Irgendwann nicht mehr seine Eltern für sein Leben verantwortlich machen.

Dann fällt ihm ein, dass er ja auch Diabetes Typ 2 von seinem Vater geerbt hat, weshalb er jetzt dringend etwas essen muss.

Kritisch mit der DDR - unkritisch mit sich selbst

Viel unwahrscheinlicher und deshalb bemerkenswerter als seine Charakterschwäche war ja, dass sein Vater es schaffte, einen kritischen, sarkastischen, gnadenlosen Roman zu schreiben und den „Wundertäter“, Band drei, 1980 durch die Zensur zu bugsieren. Er beschreibt darin, wie das Innere des Redakteurs Stanislaus Büdner immer wieder am Äußeren der DDR zerschellt. Er beschreibt die Selbstprüfung. Die Selbstkritik. Die Verarbeitung von Zweifeln. Das Wollen und das Können auf dem Weg zum Schriftsteller. Das Ersticken im politischen System. Und alles mit Genauigkeit. Als das Buch einmal draußen war, wurde es künstlich verknappt, bestellte Rezensionen sollten verurteilen. Aber hunderte Leute standen vor den Buchhandlungen Schlange, weil sie wussten, dass da mal etwas stimmte. Wie war das möglich?

Knut Strittmatter friemelt den Stecker eines alten Wasserkochers in seine Buchse. Dreierlei Dinge erscheinen dem Sohn plausibel: der schützende Kokon des Erfolgs, seine landwirtschaftliche Lebensrealität und sein Arbeitsfuror.

„Ich habe nie einen Menschen gesehen, der so konsequent gearbeitet hat wie er. Und das nachprüfbar: Fünf Seiten pro Tag, das war die Norm.“ Er war ein mustergültiger Werk-Tätiger. „Wenn ich das teile durch die Seiten, die jährlich erschienen – und das Tagebuch muss man ja mitrechnen –, komme ich auf mehr.“ Das war Übererfüllung des Plans.

In Schulzenhof, „vier Hektar Wind ums Haus“, konnte aber auch jeder sehen, dass er sich für keine andere Arbeit zu schade war: Acker und Tiere, Heuen und Misten. Dieses in jeder Hinsicht produktive Leben war unhintergehbar.

Mochten andere glauben, dass Strittmatter ein Heimatdichter sei, er wusste, dass ihm Landschaft nicht weniger als Politik erschien, sondern mehr. Sie kam ihm dauerhafter, gültiger vor als die Politik, an der er zunehmend verbitterte. „Überall das gleiche Schauspiel, nur von anderen Personen aufgeführt.“ Ihm gefiel Laotse, er wollte aufhören, sich einzumischen. Die Natur war ein unendlicher Metaphernquell.

Zu Knut Strittmatters schöneren Erinnerungen gehören die Ausritte mit dem Vater. Einmal kamen sie an eine Stelle im Wald, an der offenbar vor längerer Zeit ein Baum quer über den Weg gesunken war. Der Weg hatte sich verschoben, er führte jetzt einmal um den Baum herum. „Siehst du“, sagte der Vater, „statt den Baum aus dem Weg zu räumen, gehen die Menschen um ein Hindernis herum.“

Es wäre ein Leichtes gewesen, die Kisten mit den Briefen zu vernichten, die seine Zeit beim Polizeibataillon 325 betreffen. Dass er dazu keine Anstalten machte, spreche dafür, dass er nie geglaubt hat, dass diese neuen „Nachrichten aus meinem Leben“, wie die Tagebücher jetzt heißen, das Potenzial haben könnten, das Wichtigste zu gefährden: sein Lebenswerk.

Knut Strittmatter hält für möglich, dass die autobiografische Schreibweise seines Vaters die Ansprüche an die Rechenschaftspflicht erst schürten. Erwin Strittmatter hat ja sonst immer alles benutzt für seine Romane: seine Bäckerlehre, Redakteurszeit, Figuren aus der Familie, seinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, die ewige Suchbewegung des Lebens.

Wie produziert ein Bauchmensch Literatur? Indem er alles durch sich hindurchgehen lässt.

Strittmatter sagte gerne „keltern“ dazu: Er keltert Literatur aus seinem Leben. Und in diesem Wort steckt alles: der Druck, der von der Presse ausgeht. Die Zerstörung des Rohmaterials. Und auch die Gefahr, dass eine einzige schlechte Frucht den ganzen Saft verdirbt.

„Man muss sich ja entscheiden“, sagt Michael Becker. Dafür oder dagegen. Michael Becker ist Schauspieler, er ist 61, er ist groß geworden, als die Welt in zwei Blöcke geteilt war. Und er ist dafür.

Als 2008 Strittmatters Rolle im Zweiten Weltkrieg herauskommt, entwirft er ein persönliches Gegenprogramm für den Autor. Die einzige Strategie: das Werk selbst. Am Staatstheater Cottbus spielt er zurzeit im „Laden“, er liest Texte von ihm, er schreibt. Und wenn einer fragt, sagt er: „Man muss der Diskussion das Werk entgegenhalten.“ Es steht da für sich selbst. Unhintergehbar. Das Werk, das mit einer ungeheuren Plastizität ein Relief aus dem Staat DDR schlägt.

Auch wenn man jetzt weiß, dass den wahren Preis für dieses Wunder Erwin Strittmatter selbst gezahlt hat. Der Werktätige, der nicht riskieren wollte, nicht mehr gedruckt zu werden, schönte seine Biografie und opferte die persönliche, biografische Wahrheit, um eine literarische, historische, politische Wahrheit im Werk nicht zu gefährden.

Bürgermeister Kielblock drapiert noch das Geburtstagsgebinde auf dem Grab und sagt, solange ihm kein Mord nachzuweisen ist. . . Kiefern umstehen aufrecht den kleinen Friedhof, das Land fällt in Wellen ab. Gegenüber, Richtung Haus, entlauben sich Birken und Erlen Jahr um Jahr aufs Neue. Jeder Abend ist ein Gemälde in den Farben des Abschieds. Unverhandelbar. Wahr.

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