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Der Mensch und die Natur. Ein Wanderer hält eine LGBTQ-Flagge hoch.

© imago

Streitthema „Gender“: Was ist Emanzipation und was Machbarkeitswahn?

Philosoph Christoph Türke sucht in seinem Buch „Gender und Natur“ die Grenze des Dekonstruierbaren – und stellt provokante Fragen. Die Kolumne Flugschriften.

Von Caroline Fetscher

Caroline Fetscher schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Sachbücher. Nächste Woche: Gerrit Bartels über den Literaturbetrieb.

Viel Heikles kann sich einhandeln, wer „Natur“ für gegeben auffasst. Unbehelligt tun das zwar viele, so im Arten- oder Klimaschutz, wenn gefordert wird, naturwissenschaftliche Faktizität anzuerkennen. „Follow the Science“, ruft Greta Thunberg den profitsüchtigen Gesellschaften zu.

Problematisch wird es in der Sozial- und Kulturwissenschaft, wenn es um „Gender“ geht – die Auffassung, Geschlecht verdanke sich sozialen Konstruktionen, und bei „Mann“ und „Frau“ Natur zu erwähnen sei rückwärtsgewandt, ja: reaktionär. „Geschlecht“ beruhe demnach auf Zuweisungen, die sich, etwa mit der US-Philosophin Judith Butler, dekonstruieren lassen.

Gibt es eine Grenze des Dekonstruierbaren?, fragt Christoph Türcke in seinem neuen Buch (Natur und Gender. Kritik eines Machbarkeitswahns. C. H. Beck, München, 2021, 233 S., 22 €). Türcke ist Theologe, emeritierter Philosophieprofessor und hat keine Scheu, sich in die Nesseln zu setzen, wobei er schon heftig irrte.

Hier stellt er brisante Fragen und provoziert zudem mit Begriffen wie „Diskursfetisch“ oder „Erregungsregime“.

Auf dem Weg zum Machtbarkeitswahn

Unabweisbar sei es, räumt Türcke ein, dass Natur stets durch den Filter menschlicher Wahrnehmung erfasst wird. „Die Natur ist das, was wir aus ihr machen. Aber ist sie nur das – und sonst nichts? Erst diese Frage rührt an den Nerv des Problems. Wer sie munter bejaht, mag sich auf dem Weg zur Emanzipation von allen Naturschranken wähnen. Faktisch befindet er sich am Übergang von der Realitätstüchtigkeit zum Machbarkeitswahn, um nicht zu sagen, zum Schöpfungswahn.“

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Aktuelle „soziale Kräfteverhältnisse“, so Türcke weiter, beförderten diesen Wahn. Einen Ausdruck dieser Entwicklung sieht der Autor unter anderem in der Zunahme kosmetischer Operationen bis hin zum vermehrten Wunsch nach Geschlechtsanpassung und anderen Eingriffen bereits bei Teenagern, die sich als „Mann“ oder „Frau“ nicht identifizieren wollen.

Über das Unhintergehbare, ob als Schöpfung bezeichnet oder nicht, haben menschliche Gesellschaften jedoch keine unbegrenzte Verfügungsgewalt, so ließe sich Türckes skeptische Mahnung zusammenfassen.

Diskussionswürdig sind die Fragen allemal

Vom progressiven Ende her kritisierte Slavoj Žižek schon vor über zwanzig Jahren die Ermunterung, sich erwünschte Körper wie aus dem Supermarkt zusammenzukaufen: Damit erreiche das kapitalistische System vollends maximale Durchdringung.

Türcke umkreist sein Sujet in der Antike, in der Etymologie, in der Bibel, den Mythen der Vor- und Frühgeschichte, er fragt nach Beschneidung, Schmucknarben, nach Traditionen im Umgang mit Körpern und in der Deutung von Natur.

Ja, moderne Gesellschaften sind in der Lage, Naturphänomenen wie Seuchen rational zu begegnen und vielen Menschen mehr Chancen auf eine Existenz in Würde zu verschaffen.

Doch innerhalb welchen Rahmens wird das Verhältnis von Kultur und Natur ausgehandelt? Diskussionswürdig sind die Fragen zu den nicht nur ethischen Grenzen des Dekonstruierens allemal.

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