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Kultur: Stufen zum Glück

Über den Verleger Siegfried Unseld, der heute in Frankfurt am Main beerdigt wird

Skilaufen, sagte Siegfried Unseld, sei das Drittschönste. Das Schönste sei Arbeiten. Wenn man ihn nach dem Zweitschönsten fragte, schaute er einen listig an und brach in sein ebenso starkes wie kurzes Gelächter aus. Skilaufen. Jedes Jahr Anfang Dezember fuhr er an einen Ort, den er kundig auf der letzten Silbe betonte, also Sankt Moritz, und wedelte den Korratsch hinunter. Wenn die Weihnachtstage kamen, sagte er: „Jetzt haben Sie ja Zeit, kommen Sie am ersten Feiertag zum Tee, wir haben viel zu besprechen.“

Er war ein besessener Schaffer und erwartete von seinen Mitarbeitern, dass sie es auch waren. Da war es schwierig, mit ihm Tempo zu halten, weil neben der üblichen, meist viel zu vielen Lektoratsarbeit seinen immer neuen Plänen nachzugehen war, entweder um sie ihm auszureden oder um sie vernünftig weiterzudenken, und für vieles musste man sich die Sachkenntnis manchmal erst erarbeiten. So war die edition suhrkamp gedacht als eine billige Reihe, um die Autoren des Verlags im Haus besser zu vermarkten. Man wollte sie ihm ausreden. Mit dem ihm eigenen Instinkt für Mitarbeiter, die eigene Visionen zu entwickeln vermochten, stellte er Günther Busch ein, der die edition dann zu dem Instrument machte, das von nicht zu ahnendem Erfolg gekrönt war.

In den sechziger Jahren war Walter Boehlich sein Cheflektor. Täglich haben sie nach den Mitternachtsnachrichten telefoniert, als hätten sie tagsüber nicht schon genug miteinander gesprochen, jeden Samstag kam Boehlich zum Tee. Unterschiedlichere Charaktere sind nicht vorstellbar. Da war Unseld mit seinem Enthusiasmus, seinen Visionen, seinem Feuer, und da war der strenge Boehlich mit seinen klugen Argumenten und seinem immensen Wissen, mit denen er ihm die Pläne ausreden wollte: „Das machen wir nicht. Basta!“ Als es dann Ende ’68 zum Bruch kam, sagte Unseld, Boehlich sei die großartigste Bremse gewesen, die er sich vorstellen konnte – aber eben eine Bremse: Er versuchte den himmelstürmenden Verleger am Boden zu halten. Das konnte nicht gutgehen. Als die Lektorenmannschaft schließlich mit Boehlich gegangen war – zu erinnern ist an Karl Markus Michel, der das Wissenschaftsprogramm auf den Weg brachte, an den Theaterverlagschef Karlheinz Braun – konnte der Verlag aufblühen und zu dem mächtigen Unternehmen werden, als das man ihn kennt: Reihen über Reihen, Gesamtausgaben, Klassikerverlag, Jüdischer Verlag.

Unseld redete gerne und viel, meist über den Verlag und über Autoren, und oft war er ein guter Anekdotenerzähler. Unvergesslich die Schilderung der Begegnung Handkes mit Beckett: Die beiden hatten einander nichts zu sagen, das Gespräch kam nicht in Gang, da fragte Handke plötzlich: „Do you watch television?“ Beckett: „Only sports.“ Und Handke: „You are my man.“ Bewegend auch die Geschichte von Unselds letzter Begegnung mit Beckett in einer maison de retraite, einem Pariser Altersheim. Lauter Beckett-Figuren, leer vor sich hinglotzend. „Monsieur Beckett?“ Kopfschütteln, Achselzucken. Unseld will wieder gehen, da hört er ein dünnes, brüchiges Stimmchen hinter einer Scheibe seinen Namen rufen: „Siegfried“.

Unseld redete gerne und viel, aber er hörte nicht so gern zu. Redete einer für seinen Geschmack zu lang – das habe ich gegenüber Adorno und Gershom Scholem erlebt – wurde er unruhig auf seinem Stuhl, runzelte die Stirn, schob das Kinn vor wie ein Condottiere und schaute in die Ferne. Entweder wechselte er das Thema, oder er brachte die Rede seines Gegenübers auf den für ihn brauchbaren Punkt: ein Buch, eine Ausgabe, wenigstens ein Projekt. So oder so blieb er immer bei sich: bei seinen Zielen.

Er hatte den Charme eines Bären – mal Grizzly, mal Teddy. Seine Umarmungen konnten zum Fürchten sein, weil man sich ihm damit auslieferte, vielleicht über Jahre als Joyce-Herausgeber an ihn gefesselt war (die Fesseln wurden nicht gelockert). Dann wieder konnte er zart und liebevoll sein, wenn er überreden wollte, oder wenn etwas stockte, der Autor nicht weiterwusste. Die Voraussetzung für seinen Erfolg war gewiss die ganz persönliche Bindung an seine Autoren, von denen selbst der geringste – das hatte ihm Peter Suhrkamp eingeschärft – „mehr“ war als ein Verleger. So bewunderte er fast fraglos die schöpferische Kraft seiner Autoren. Den von anderen verehrten Verleger Kurt Wolff, Entdecker Kafkas, nannte er einen Herrenreiter, weil er von seinem Autor ein Buch machte, ihn dann gehen ließ. Er, Unseld, wollte die Autoren „pflegen“: nicht ein Buch machen, sondern einen Autor.

Man kennt die Beziehungen, die er in dieser Absicht einging und meist durchhielt, sie sind Legion. Die, die er für Genies hielt, hat er akzeptiert, auch wenn sie ihm fremd waren, in einer Art naivem Staunen und Achtung vor ihrer Größe. Dass es dabei auch zu Spannungen, zu Zerwürfnissen kam, liegt in der Natur solch empfindlicher Beziehungen. Aber wenn ein Konflikt unlösbar erschien, hatte er doch seit den siebziger Jahren die treue Burgel Zeeh, die Sekretärin, an seiner Seite, die die Kontakte – etwa im Falle Johnsons – fortführte und mit Geschick und Menschenklugheit manches von ihm, manches von den Autoren fernhielt.

Er las die Manuskripte seiner Autoren – manchmal wirkliche Handschriften (wie bei Handke) – sofort, reagierte sofort. Welcher vielbeschäftigte Verleger tut das noch? Ob er immer etwas damit anfangen konnte? Ich erinnere mich an die Irritation, als Günter Eich seine „Maulwürfe“ schickte, diese ganz neue Möglichkeit deutscher Prosagedichte. „Maulwürfe? So können Gedichte nicht heißen“, und er schlug als Titel „Klimawechsel“ vor.

Sein Geschmack – wenn man bei einem Verleger von Geschmack reden kann, er müsste ja so viele haben – ist schwer einzuschätzen. Aber einem hielt er unverbrüchlich die Treue - und Treue war sicher ein oberstes Prinzip seines Handelns und Empfindens: Hermann Hesse. Sein Lieblingsgedicht war und blieb Hesses „Stufen“. Ende der achtziger Jahre hatte er den Plan, eine Reihe von Komponisten zu beauftragen, dieses Gedicht zu vertonen. Er wollte auch Cage, ausgerechnet John Cage, darum bitten, was zeigt, dass er auch ein Gespür für das ihm ganz Fremde hatte. Ich ging mit Cage zu Unseld, er las uns die „Stufen“ vor, ich übersetzte sie, und Cage sagte – schelmisch, aber doch bestimmt, wie es seine Art war – „I don’t think I like this poem.“ Dass Cage das Gedicht dann doch komponierte, ist der Überredungskunst von Ulla Berkéwicz, Unselds zweiter Frau, zu verdanken. Cage zerlegte den Text in Zufallsoperationen in mehrere Büschel von Einzelteilen, die dann von Schauspielern – auf Stufen stehend, über die Räume von Ullas Wohnung verteilt – rezitiert wurden. So hatte Unseld am Ende doch seinen Wunsch erfüllt bekommen, und zugleich war Cage sich treu geblieben.

War Unselds Größe seine grenzenlose, ansteckende Leidenschaft für die Literatur? Sein Gespür für das Machbare in Bezug auf wechselnde oder auch erst erahnbare Situationen? Sein kämpferischer Geist, der gerade in Krisen ungeahnte Energien entfaltete? Sein genialer Geschäftssinn? Seine Treue und Loyalität? Sicher alles zusammen in unwiederholbarer Mischung. Hinzu kam das Glück, das ihm Peter Suhrkamp gewünscht hatte, auch wenn er es manchmal etwas korrigieren musste – vermutlich zwinkerte Fortuna ihm dabei zu.

Klaus Reichert ist neuer Präsident der Akademie für Sprache und Dichtung. Er lebt als Schriftsteller in Frankfurt und ist Herausgeber der Joyce-Ausgabe und der Prosa von Friederike Mayröcker im Suhrkamp Verlag.

Klaus Reichert

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