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© dpa

Stuttgarter Hauptbahnhof: Seitenflügel ohne Aufprallschutz

Nach 15 Jahren Planung soll endlich der Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs beginnen. Aber es droht neues Ungemach.

Hinter dem Titel „Stuttgart 21“ verbirgt sich ein ehrgeiziges, über vier Milliarden schweres Infrastrukturprogramm, bei dem das Eisenbahnsystem der Stadt völlig umgekrempelt werden soll. Der Stuttgarter Hauptbahnhof, der jüngste Kopfbahnhof Deutschlands, soll quer zur bisherigen Gleisanlage unterirdisch angefahren werden. Die Bahnsteige, die Rangiergleise und der Güterbahnhof werden frei, die Innenstadt kann um 100 Hektar vergrößert werden.

Es ist nun schon zwölf Jahre her, dass der Düsseldorfer Architekt Christoph Ingenhoven den Wettbewerb für den Umbau gewann. Er sah hinter dem historischen Bahnhof einen Tiefbahnhof mit begrüntem Dach vor, aus dem zwei Dutzend Lichtkuppeln ragen. Lange Zeit wurde gerungen, Immobilienrezession und Finanzkrise gingen ins Land. Inzwischen gibt es zumindest politisch grünes Licht.

Doch nun regt sich unerwarteter Widerstand. Denn zunächst hatte wenig Aufmerksamkeit erregt, dass Ingenhoven den Abriss eines großen Teils des Bahnhofs vorsah. Denn der Verlust der Bahnsteiganlage macht die Flügel des u-förmig angelegten Gebäudes überflüssig. Die Frage, ob sie deshalb verzichtbar und dem Abriss anheimgestellt sind, kann demnach nicht mehr unter funktionalen Gesichtspunkten erörtert werden. Sie ist eine kulturhistorische Angelegenheit geworden. Schon heben die Unesco-Berater für Denkmalschutz die Hand und verlangen die Erhaltung des gesamten Komplexes, der ihrer Meinung nach zu den „bedeutendsten Gebäuden der Welt“ zu zählen sei.

Der Stuttgarter Architekt und Hochschullehrer Paul Bonatz hatte gemeinsam mit Fritz Scholer den 1911 ausgelobten Wettbewerb gewonnen. Der Bau zeigt kubische, monumentale Formen, wobei die Architekten jedoch wörtliche Zitate aus der Baugeschichte bewusst mieden. Vergleiche mit den gleichzeitig entstandenen Bahnhöfen in Leipzig, der in wilhelminischer Prachtentfaltung schwelgt, in Basel (Badischer Bahnhof) oder mit dem Jugendstilbau in Helsinki zeigen die modernere, sachlichere Konzeption.

Zwar belebte Bonatz die Fassaden mit rohen Bossenquadern, als gelte es, mit dem Palazzo Vecchio in Florenz zu konkurrieren, doch klassisch-harmonische Proportionen sehen anders aus. Man darf nicht vergessen, es war die Zeit des Kubismus, des Futurismus und des Dadaismus, die den klassischen Formenkanon in die Asservatenkammer der Baugeschichte verwünschten.

Doch auch funktional war der Hauptbahnhof zu seiner Zeit zukunftsweisend. Die Befreiung vom Dogma der Symmetrien eröffnete den Architekten die Möglichkeit, auf Funktion und Örtlichkeit zu reagieren. Für die sechs Vorortgleise errichteten sie eine kleine Eingangshalle an der Westseite, für die zehn Fernverkehrsgleise die große, repräsentative Halle im Osten. Der Bahnhofsturm fand seinen Platz nicht in der Mittelachse, sondern ganz am Ostrand der Querbahnsteighalle. Auch hier zeigt sich die antiklassische Haltung, denn der 56 Meter hohe Turm steht nicht exakt in der Achse der Hauptmagistrale der Stadt, sondern leicht nach links versetzt, als wolle er die Passanten nach links zu den Eingängen des Bahnhofs dirigieren.

Da man bei laufendem Betrieb bauen musste, verzögerte sich der 1911 begonnene Bau in den Ersten Weltkrieg hinein und konnte erst 1928 abgeschlossen werden. An eine stählerne Bahnsteighalle war in Zeiten der Materialknappheit nach dem Krieg nicht zu denken, und so entschloss sich die Reichsbahndirektion, hölzerne Hallen geringerer Spannweite zu errichten. Immerhin bediente man sich bei diesen im Zweiten Weltkrieg zerstörten „Notdächern“ interessanter Ingenieurkonstruktionen, was man von den Ersatzbauten der Nachkriegszeit nicht mehr sagen konnte.

Wenn nun diese modernen Bahnsteigdächer dem Bahnhofsumbau für Stuttgart 21 weichen müssen, so mag das kein schmerzlicher Verlust sein, wenngleich der Wunsch besteht, einen Rest davon zu erhalten, um die Baugeschichte ablesbar zu machen. Anders verhält es sich mit den Seitenflügeln, vor allem dem östlichen, zum Schlossgarten hin gelegenen. Die Ostseite ist mit ihren drei hervortretenden Risaliten und dem ebenfalls aus der Flucht tretenden Turm kompositorisch von mindestens ebensolcher Qualität und Kraft wie das Hauptportal am Arnulf-Klett-Platz und von längerer Ausdehnung als dieses. Die Flügel zu kupieren, würde bedeuten, das Bauensemble in seiner Balance empfindlich zu stören.

Der Stuttgarter Hauptbahnhof, der erste Großbahnhof, der den Schritt zur Moderne vollzog, ist ein Kulturdenkmal besonderen Ranges, neben der Weißenhofsiedlung und dem Fernsehturm das bedeutendste der Landeshauptstadt. Doch „Europas letzte Verkehrskathedrale“ wäre in der amputierten Form nur noch ein Torso. Alternativen, die dem Hauptbahnhof die ihm zustehende Ehre erweisen, sind denkbar, der Wettbewerb 2001 hatte es gezeigt und Ingenhoven wird sich als flexibel erweisen müssen. Wie Norman Foster, der das „Tankstellendach“ über dem Reichstag aufgeben musste und sich stattdessen die Kuppel einfallen ließ.

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