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Schmerzensmann der Popmusik. Der amerikanische Sänger Sufjan Stevens, 39.

© Asthmatic Kitty

Sufjan Stevens' neues Album: Aufblühen im Jammertal

Der amerikanische Songwriter Sufjan Stevens legt mit dem Album „Carrie & Lowell“ ein autobiografisches Meisterwerk vor.

Von Jörg Wunder

Er war der Ikarus des Pop. So sah es jedenfalls aus, wenn Sufjan Stevens bei seinen Konzerten Engelsflügel umschnallte und mit 15-köpfiger Band durch die himmelsstürmerischen Arrangements unglaublicher Songs segelte. Pop mit ganz vielen Ausrufezeichen war das, der ambitionierteste Pop-Entwurf der nuller Jahre. Und was hat er für Versprechungen gemacht: das „50 States Project“, für jeden Bundesstaat der USA eine Platte! Natürlich gab es Skeptiker, die ausrechneten, dass das in einem Songwriter-Leben nicht zu schaffen sei, zumal zwischen Album eins und Album zwei bereits zwei Jahre lagen. Aber hey, wer die fantastischen Pop-Enzyklopädien über Michigan (2003) und Illinois (2005) gehört hatte, der wollte einfach glauben, dass da noch mehr kommt. Kam aber nicht. Nur ein Dementi: War alles nur Spaß. Wer’s glaubt.

Stattdessen irritierte Stevens seine mit jedem Jahr weniger euphorische Fangemeinde mit CD-Boxen voller Weihnachtslieder, mit trötiger Kunstmusik über eine New Yorker Schnellstraße, ehe er sich 2010 nochmals zu zwei grandiosen Platten aufraffte, von denen er eine völlig unter Wert als einstündige EP verschleuderte und die andere mit schroffen Progrock-Suiten füllte. Dann war Ruhe. Ikarus war der Sonne zu nahe gekommen.

Hört man sich fünf Jahre später durch die elf Lieder seines „Comeback“-Albums „Carrie & Lowell“, gibt es keinen Zweifel, dass derselbe Künstler am Werk ist, der sich mit Jahrhundertstücken wie „Chicago“ oder „Impossible Soul“ in die Annalen der Pophistorie eintrug. Da ist wieder diese unverkennbare Sufjan-StevensStimme, fast flüsternd, gern in den Kopfgesang steigend, oft in mehreren Spuren übereinander gelegt, da sind die typischen melodischen Verschlingungen. Und dennoch ist alles anders.

Die Überfülle der früheren Alben ist verschwunden

Nicht nur, weil es sich bei den neuen Liedern um ganz leise, unspektakuläre Folksongs handelt, minimalistisch arrangiert, die um einfache repetitive Figuren auf der akustischen Gitarre, auf Banjo oder Ukulele kreisen, manchmal durch ein verwehtes Piano oder den behutsamen Einsatz von Synthesizern akzentuiert. Das Überbordende früherer Platten ist weg, die Bläsersätze, Jubelchöre, Streicher, Xylophone, Theremine.

Okay, Sufjan Stevens wäre nicht der Erste, der sich nach einer Phase der Ausschweifung im Liedermachermodus neu erfunden hätte. Was das Album „Carrie & Lowell“ aber von Sufjan Stevens’ bisherigem Werk unterscheidet, ist die inhaltliche Ebene. Und da wird einem schlagartig klar, dass man diesen Mann bislang überhaupt nicht kannte. Ihn gar nicht kennen konnte. Es blieb keine Zeit, sich zu fragen, woher er all diese bizarren Geschichten hatte, die er in seinen Songs erzählte. Die, so viel war klar, nicht autobiografisch waren, oder wenn doch , dann so stark verklausuliert, dass höchstens ein Therapeut sie hätte entschlüsseln können.

Man möchte den Verfasser dieser traurigen Verse in die Arme nehmen

„Carrie & Lowell“ dagegen ist auf eine sehr direkte Weise persönlich, ja intim, ein offenes Buch, eine Seelenschau. Das fängt schon mit dem Titel und dem Cover an. Carrie Stevens war Sufjans leibliche Mutter, eine psychisch kranke Alkoholikerin, die 2012 an Magenkrebs verstarb. Die Szene, als sie die Restfamilie früh verließ, verewigt Sufjan in lakonischen, herzzerreißenden Zeilen: When I was three, three maybe four / she left us at that video store („Should Have Known Better“). Lowell, das ist Lowell Brams, Sufjans Stiefvater, mit dem seine Mutter in den Achtzigern im fernen Oregon verheiratet war – Sufjan und seine sechs Geschwister wuchsen derweil bei ihrem leiblichen Vater Rasjid und dessen neuer Frau in der Nähe von Chicago auf.

Später gründete Sufjan mit Lowell das Plattenlabel Asthmatic Kitty, auf dem er bis heute seine Alben veröffentlicht. Man sieht Carrie und Lowell als junges Paar auf einem verblichenen Polaroidfoto. Carrie trägt eine jener übergroßen Kunststoffbrillen, die damals schon nicht mehr modern waren, und im Gegensatz zu Lowell meidet sie den Blickkontakt mit der Kamera.

Das komplizierte Verhältnis zur Mutter zwischen Annäherungsversuchen und Zurückweisungen steht im Zentrum der Platte, doch es geht in einem universelleren Sinne um die Lebensbeichte eines Menschen, der mit Ende 30 am Ende seiner Kräfte zu sein scheint. What’s left is only bittersweet / for the rest of my life, admitting the best is behind me / now I’m drunk and afraid, wishing the world would go away, heißt es etwa in „Eugene“. Die Platte ist voll von erschütternden Momentaufnahmen, die realistisch oder in mythologischen („The Only Thing“) oder religiösen („John My Beloved“) Umschreibungen das Porträt einer dysfunktionalen Familie zeichnen.

Bei aller musikalischen Schönheit ist das krasser Stoff. Man möchte den Verfasser dieser traurigen Verse in die Arme nehmen, ihm die Kraft wünschen, die Niederlagen und Tiefschläge seines Lebens – etwa den Tod seiner Mutter anzunehmen (The hospital asked should the body be cast / before I say goodbye, my star in the sky („Fourth Of July“). Vor allem aber ist man berührt, weil dieser im Übermaß mit Talent gesegnete Mensch in einem nicht weniger tiefen Jammertal wohnt als man selbst, wenn es einem so richtig mies geht.

Nur könnte man niemals so wunderbare Lieder darüber schreiben. Lieder, die „Carrie & Lowell“ zu einem der großen Schmerzensalben der Popmusik machen, das in eine Reihe zu stellen ist mit „I Am A Bird Now“ von Antony & The Johnsons oder Bon Ivers „For Emma, Forever Ago“. Oder mit „Either/Or“ von Elliott Smith, einer Platte von ähnlich tragödienhafter Wucht. „Dies ist kein Kunstprojekt. Dies ist mein Leben“, hat Sufjan Stevens in einem Interview über „Carrie & Lowell“ gesagt. Mit einer Platte über die Traumata seiner Kindheit ist Sufjan Stevens, das zeitlos jugendliche Genie, kurz vor seinem 40. Geburtstag plötzlich erwachsen geworden.

„Carrie & Lowell“ erscheint beim Label Asthmatic Kitty.

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