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Sinfonie des alltags. Swetlana Alexijewitsch erforscht die (post-)sowjetische Seele.

© epd

Swetlana Alexijewitsch erhält Friedenspreis: Im Reich des roten Menschen

Der Mut, zuzuhören: Am Sonntag erhält Swetlana Alexijewitsch den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ihr neues Buch erzählt vom „Leben auf den Trümmern des Sozialismus“.

Von einer Interviewpartnerin bekam Swetlana Alexijewitsch einen Strauß Flieder geschenkt. Die 60-jährige Witwe, die ihren Mann an den Alkohol verlor, bezeichnet sich als russische „Normalbürgerin“. Sie lebt tausend Kilometer von der glamourösen Hauptstadt Moskau entfernt, die sie nur aus dem Fernsehen kennt. Im Winter schneit das Dorf metertief ein, ihr Häuschen hat keinen Wasseranschluss. Politische Systemwechsel ertragen die Menschen hier mit Gleichmut. Was wirklich zählt, ist, ob der Frühling bald kommt.

Die Frau hat eine Herzensgüte, wie sie Swetlana Alexijewitsch auf ihren zahllosen Recherchereisen durch das 1991 zerfallene sowjetische Imperium manches Mal erlebt hat: „Wir fahren durch das Gebiet Smolensk. In einem Dorf halten wir vor einem Laden. Was für vertraute, schöne, gute Gesichter (ich bin selbst auf dem Land aufgewachsen) – und was für eine demütigende, bettelarme Existenz.“

Es sind die sogenannten einfachen Menschen, die in Swetlana Alexijewitschs bislang umfangreichstem Buch „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ die Essenz der Hoffnung bilden. Am Sonntag wird sie in der Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Sie selbst strahlt auch diese Güte aus, wie kürzlich bei ihrer umjubelten Lesung beim Internationalen Literaturfestival Berlin zu erleben war. Und das, obwohl sich die frühere Journalistin seit Jahrzehnten beharrlich und auf poetologisch unvergleichliche Weise mit den düstersten, blutigsten Themen ihrer Heimat auseinandersetzt. Es gehe ihr darum, mit ihrer spezifischen Protokollmethode eine „Zivilisation der Stimmen“ zu beschwören, sagt sie. Von Anfang an habe sie Bücher schreiben wollen, die „so stark sind wie die Stimmen dieser einfachen Menschen“.

1948 im ukrainischen Iwano-Frankiwsk als Tochter einer Ukrainerin und eines Weißrussen geboren, ist Swetlana Alexijewitsch in einem belorussischen Dorf aufgewachsen, in dem es nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“ fast keine Männer mehr gab. Sie absolvierte ein Journalistikstudium, arbeitete aber auch als Lehrerin. Von ihrem dokumentarischen Prosawerk ist hierzulande „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ (1997) am bekanntesten. Debütiert hat Alexijewitsch 1985 mit „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“, in dem sie Veteraninnen der Roten Armee befragte. Das Buch „Zinkjungen“ über das Schicksal der in Afghanistan gefallenen russischen Rekruten, die in Zinksärgen überführt wurden, brachte ihr eine Anklage wegen „Besudelung der Soldatenehre“ ein.

Das Writers-in-Exile-Programm des PEN führte Swetlana Alexijewitsch 2008 für zwei Jahre nach Berlin. Doch sie kehrte nach Minsk zurück, da sie nur dort ihre solitäre Geschichte des „Roten Menschen“ fortsetzen konnte: „Ich muss zu Hause sein, um den Menschen zuzuhören.“ Seit 1994 ist keines ihrer in 28 Sprachen übersetzten, vielfach ausgezeichneten Werke mehr in ihrer Heimat publiziert worden. In Europas letzter Diktatur gelten Schriftsteller als Staatsfeinde. Der Konflikt mit der Macht sei für die Künstler ihres Landes normal, sagt Swetlana Alexijewitsch, der mit der überwiegend regimetreuen Bevölkerung jedoch „schwierig bis furchtbar“. Das Umschlagfoto von Andrei Liankevich zeigt eine KPdSU-Veteranin, die als einsame Fahnenträgerin durch die monumental-gespenstische Stadtlandschaft von Minsk marschiert – eine authentische Szene.

"Secondhand-Zeit": zwei Jahrzehnte postrevolutionäres Russland im Zeitraffer

Sinfonie des alltags. Swetlana Alexijewitsch erforscht die (post-)sowjetische Seele.
Sinfonie des alltags. Swetlana Alexijewitsch erforscht die (post-)sowjetische Seele.

© epd

Alexijewitschs künstlerische Chronik arbeitet mit einprägsamen und zugleich sehr poetischen Kapitelüberschriften, denen häufig ein Schrecken innewohnt. In „Von einem kleinen roten Fähnchen und dem Feixen des Beils“ etwa erzählt eine Frau, wie der sowjetische Geheimdienst NKWD ihre Familie zerstört hat. Nach Vorbildern gefragt, nennt die Verfasserin natürlich Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“. Deutschen Lesern fällt dabei vielleicht auch Walter Kempowskis Kollektivroman „Echolot“ ein oder Ernst Schnabels NDR-Hörspiel „29. Januar 1947“: Es entstand aus 35 000 Zuschriften, in denen Hörer diesen, ihren Tag schilderten.

„Secondhand-Zeit“ ist eine zweiteilige, thematisch verdichtete Sammlung von O-Tönen, die von illegalen usbekischen und tadschikischen Gastarbeitern in Moskauer Kellerwohnungen bis zu einem hochgestellten Anonymus im Kreml reicht. Das Buch, an dessen mitunter flüchtig wirkenden Duktus man sich erst gewöhnen muss, ist unterteilt in „Zehn Geschichten in rotem Interieur“ aus den von Glasnost und Perestroika bestimmten Jahren 1991 bis 2001 und „Zehn Geschichten ohne Interieur“ bis 2012. Zwei Jahrzehnte postrevolutionäres Russland im Zeitraffer, ein „Echo der Zivilisation der Tränen“. Für alle Befragten gilt: „Geboren in der UdSSR – das ist eine Diagnose.“

Warum hängen die Alten, die so unendlich viel Leid unter Stalin erfuhren, aber auch Neo-Komsomolzen – die Jugend der Kommunistischen Partei – weiterhin einer Ideologie an, welche die Menschen „mit eiserner Hand ins Glück zwingen“ wollte, wie die Losung des Straflagers auf den Solowki-Inseln lautete? Die Gesellschaft, die sich in den Gesprächen abbildet, ist durch und durch militarisiert. Ein Reflex auf die ständig propagierte Kampfbereitschaft im Kommunismus. Im Sinne der ermordeten Journalistin Anna Politowskaja geht die Autorin immer wieder auf den schwelenden Tschetschenien-Konflikt und seine Auswirkungen wie die Terroranschläge in Moskau ein, spricht mit Überlebenden des verheerenden U-Bahn-Attentats im März 2010. Wer südrussisch aussieht, muss rassistische Diskriminierung fürchten.

So wie der landeskundige Philosoph Leibniz einst die Russen als „getaufte Bären“ bezeichnete, stellt Alexijewitsch die ketzerische Leitfrage, ob ihre Landsleute überhaupt zur Freiheit fähig sind. Die Antworten sind größtenteils erschütternd, gerade was die jüngere, extrem konsumorientierte Generation angeht. Nach der Liebe sei sie bestimmt zehn Jahre lang nicht mehr gefragt worden, sagt ihr eine 35-jährige Werbemanagerin. Zukunft bedeute für sie: Geld. Für die Untergrundliteratur und die heimlichen Küchengespräche ihrer Eltern hat sie nur Spott übrig.

Man merkt deutlich, dass Alexijewitsch selbst zu diesen bibliophilen „Küchenmenschen“ gehört, dass ihre Enttäuschung zutiefst persönlich ist, wenn sie eine Gleichgesinnte zitiert: „Die Sowjetzeit … Das Wort hatte einen heiligen, magischen Wert. Aus alter Gewohnheit wurde in den Küchen der Intelligenzija noch immer über Mandelstam geredet, hatte man beim Suppenkochen einen Band Astafjew oder Bykau in der Hand, aber das Leben demonstrierte ständig, dass das nun nicht mehr wichtig war, Worte bedeuteten nichts mehr.“

Dieses Oratorium bäumt sich zu einem überwältigenden Gegenbeweis auf. Worte sind doch nicht wirkungslos. Die Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt hat sich neben ihrer Übertragungsleistung zusätzlich die Mühe gemacht, ein für deutsche Leser hilfreiches Glossar anzufügen. Ihr gebührt gleichfalls Dank, wenn Swetlana Alexijewitsch zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis erhält.

„Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Verlag Hanser Berlin 2013. 576 Seiten, 27, 90 Euro.– Am 18. Oktober um 20 Uhr liest Swetlana Alexijewitsch im Deutschen Theater Berlin.

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